Der Nationale Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ – Wirksames Instrument zur Bekämpfung der Kinderarmut?

Verfasst von Laura Martin, Koordinierungsstelle

Das Bundeskabinett hat am 5. Juli 2023 den vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) vorgelegten Nationalen Aktionsplan (NAP) „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ beschlossen. Ziel dieses Aktionsplans ist es, den generationsübergreifenden Kreislauf von Armut und sozialer Ausgrenzung zu durchbrechen. Hierzu sollen benachteiligten Kindern bessere Zugänge zu wichtigen Diensten wie der frühkindlichen Bildung und Betreuung ermöglicht werden. Damit setzt Deutschland die 2021 verabschiedete Ratsempfehlung zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder um. 
 

Chancengerechtigkeit für alle Kinder als Leitziel

Bei der Vorstellung des NAP „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ fasste Bundesfamilienministerin Lisa Paus das Vorhaben mit den Worten zusammen: 

Wir wollen sicherstellen, dass alle jungen Menschen ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben führen können – unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen benachteiligten Kindern bis zum Jahr 2030 hochwertige Zugänge zu fünf wesentlichen Bereichen gewährleistet werden:
 

  • Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung
  • Schulbezogene Bildungsangebote und Aktivitäten 
  • Gesundheitsversorgung
  • Gesunde Ernährung und Mahlzeiten in Kita und Schule
  • Angemessener Wohnraum

Insgesamt umfasst der NAP rund 350 bestehende und geplante Maßnahmen, die Bund, Länder, Kommunen und zivilgesellschaftliche Organisationen in den oben genannten Handlungsfeldern durchführen. Im Folgenden werden einige wichtige Maßnahmen des Bundes für den Elementarbereich, die u. a. auf die Förderung von Partizipation und Inklusion setzen, vorgestellt.

Eine zentrale themenübergreifende Maßnahme ist die geplante Kindergrundsicherung: Diese soll familienpolitische Leistungen zu einer neuen Förderung für alle Kinder zusammenführen und sicherstellen, dass Kinder, die Unterstützung benötigen, auch wirklich erreicht werden.

Darüber hinaus wird der bedarfsgerechte Ausbau von Betreuungsplätzen im Elementarbereich mit Investitionsprogrammen gefördert. Zudem soll der Bund gemeinsam mit den Ländern und Kommunen eine Gesamtstrategie zur Sicherung der Fachkräftebedarfe in der Kindertagesbetreuung entwickeln.

Der NAP führt auch die Fördermöglichkeiten durch das zweite Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung (KiTa-Qualitätsgesetz) an: Dieses sieht u. a. vor, dass die Länder Förderung für bedarfsgerechte Maßnahmen, wie die Stärkung von Inklusion und Beteiligung von Kindern erhalten können. Das KiTa-Qualitätsgesetz soll bis 2025 in ein Qualitätsentwicklungsgesetz mit bundesweiten Standards überführt werden.

Weiterhin sollen Eltern von kleinen Kindern in schwierigen Lebenslagen unterstützt werden, etwa durch das ESF Plus-Programm „ElternChanceN“. Dieses fördert den Aus -und Aufbau von Netzwerken zur Elternbegleitung, die über eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Eltern unter Einbindung von Bildungsinstitutionen und sozialer Einrichtungen im Sozialraum die gesellschaftliche Teilhabe und Bildungschancen von Kindern stärken. Hierzu soll auch die Qualifizierung zur Elternbegleitung von pädagogischen Fachkräften fortgesetzt werden. 

Zudem werden Projektideen, die im Rahmen des Wettbewerbs „misch:mit – für Elternbeteiligung und Demokratiebildung“ prämiert wurden, bis 2024 gefördert.

Auch Kinder sollen gezielt gefördert werden: etwa durch Initiativen und Projekte zur frühkindlichen Förderung von Kindern aus sozial und kulturell benachteiligten Familien sowie zur Förderung der MINT-Bildung und Sprachentwicklung von Kindern. Weiterhin sollen durch das geplante ESF Plus-Programm „Integration durch Bildung“ die Bildungschancen für Kinder mit Migrationshintergrund, vor allem von Mädchen, verbessert werden. 

Der NAP sieht auch die weitere Professionalisierung von pädagogischen Fachkräften in der Kindertagesbetreuung, etwa mit Angeboten der Weiterbildungsinitiative für Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF), vor: Dabei solle der Fokus auf Armutssensibilität sowie Partizipation, insbesondere von Kindern mit Behinderung und/oder Lernschwierigkeiten, liegen. 

Im NAP werden auch Beispiele von Maßnahmen zivilgesellschaftlicher Organisationen aufgeführt: Hierzu zählen etwa die Projekte „Demokratie und Partizipation in der Kindertagespflege" des Bundesverbandes für Kindertagespflege und das Projekt „Demokratiebildung in evangelischen Kitas und Familienbildungseinrichtungen“ der Diakonie Deutschland. Diese Projekte werden neben anderen Einzelvorhaben im Rahmen des Kooperationsverbunds „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ der sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ durchgeführt. 
 

Kinderarmut auf Rekordhoch – warum es auf die Frühprävention ankommt

Wie wichtig diese früh ansetzenden Maßnahmen des NAP zur Bekämpfung der Armut und sozialen Benachteiligung von Kindern sind, zeigen aktuelle Untersuchungen: So ist die Kinderarmut in Deutschland mittlerweile auf einem neuen Rekordhoch angelangt (vgl. Expertise des Paritätischen Gesamtverbandes zum Mikrozensus zu Armut 2022). Im Zuge der Corona-Pandemie und Inflation haben sich die bestehenden Benachteiligungen armutsgefährdeter Kinder und Familien weiter verschärft (vgl. Bericht von Save the Children zur Kinderarmut in Europa). 

Armutserfahrungen in den ersten Lebensjahren bergen ein hohes Risiko die Entwicklungschancen von Kindern nachhaltig zu beeinträchtigen – etwa hinsichtlich der Bildungschancen und sozialen Teilhabe. Um der Armutsgefährdung von Kindern effektiv entgegenzuwirken, braucht es daher frühpräventive Ansätze. Schließlich können besonders Kinder in Armutslagen von qualitativ hochwertiger frühkindlicher Bildung und Betreuung profitieren (vgl. Broschüre des Paritätischen zu Perspektiven der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik). 
 

Reaktionen der Zivilgesellschaft: NAP bleibt hinter den Forderungen zurück

Wie oben aufgezeigt, sind die Handlungsbedarfe zur Bekämpfung der Kinderarmut groß. Wie aber vor dem Hintergrund der angespannten Haushaltslage zu erwarten war, enthält der NAP keine neuen Initiativen und Maßnahmen. Vielmehr sind die geplanten Maßnahmen des NAP bereits im Koalitionsvertrag für die aktuelle Legislaturperiode vorgesehen und innerhalb der Bundesregierung weder abgestimmt noch mit finanziellen Mitteln unterlegt. Somit ist auch nicht von einer Stärkung der sozialen Infrastruktur, die die AGJ in einem Positionspapier einforderte, auszugehen. Entsprechend verhalten sind die Reaktionen der Zivilgesellschaft auf den NAP: 

Zwar begrüßt etwa die Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen (AGF) in ihrer Pressemitteilung, dass Deutschland den NAP für die Umsetzung der EU-Kindergarantie nun verabschiedet hat. Sie kritisiert aber u. a. das Fehlen einer umfassenden Gesamtstrategie, die infrastrukturelle und monetäre Maßnahmen ressortübergreifend verknüpft, sowie einer Perspektive, die über diese Legislaturperiode hinaus weist. Zudem fordert sie neue substanzielle Anstöße für die Armutsbekämpfung und Verbesserung der Teilhabe von benachteiligten Kindern. Darüber hinaus müssten mehr operationalisierbare messbare Zielformulierungen und Instrumente zur Erfolgsmessung der politischen Maßnahmen ergänzt werden. Auch die AGJ bezieht in einem im September 2023 veröffentlichten Positionspapier Stellung zum Nationalen Aktionsplan. Zu ihren zentralen Kritikpunkten gehört u. a. das Fehlen einer zukunftsorientierten und integrierten Gesamtstrategie zur ressort- und ebenenübergreifenden Bekämpfung von Kinderarmut. Ferner empfiehlt die AGJ eine konsequentere Berücksichtigung der Zielgruppen der Kindergarantie bei der Umsetzung von Maßnahmen in allen Handlungsfeldern sowie die Aufnahme von quantitativen und qualitativen Zielen in den NAP.


Umsetzungsprozess unter Beteiligung von Zivilgesellschaft und Kindern

Diese und weitere Forderungen nach Nachbesserungen können die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen nun in den Umsetzungsprozess einbringen: So soll der bereits 2022 begonnene umfassende Beteiligungsprozess zum NAP fortgesetzt werden. Als Nationale Kinderchancen-Koordinatorin steuert die Parlamentarische Staatssekretärin im BMFSFJ, Ekin Deligöz, diesen Prozess. Sie leitet einen NAP-Ausschuss mit Vertreter*innen aus Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft, der die Umsetzung begleiten wird. Wie schon bei der Erstellung des NAP, sollen auch bei der Umsetzung Kinder und Jugendliche beratend einbezogen werden. Im Vorwort des NAP betont Bundesfamilienministerin Lisa Paus entsprechend den Aspekt der Beteiligung als Mehrwert:

Kinder und Jugendliche sind Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebenslagen. Darum sprechen wir nicht nur über benachteiligte Kinder und Jugendliche, sondern auch mit ihnen.

Die Ausgestaltung und Umsetzung des NAP soll eine vom BMFSFJ geförderte Service- und Monitoringstelle beim Deutschen Jugendinstitut unterstützen. Zu ihren Aufgaben gehört u. a. die Erstellung der zweijährigen Fortschrittsberichte an die Europäische Kommission in enger Abstimmung mit dem BMFSFJ. Zu dieser Berichtserstattung hatten sich die EU-Mitgliedsstaaten in der Ratsempfehlung zur EU-Kindergarantie verpflichtet. Der NAP soll ein dynamisches Instrument sein, mit dem Bund, Länder, Kommunen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen ihre Maßnahmen und Ansätze kontinuierlich an veränderte Bedarfe und neue gesellschaftliche Herausforderungen anpassen können. Inwiefern der NAP dann zur Bekämpfung der Kinderarmut beiträgt, werden die kommenden Fortschrittsberichte zeigen.
 

Quellen und weiterführende Informationen: