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Vom „Spatzenrat“ und „Mi-Mi-Mittwoch“ – Erfahrungsbericht von der didacta 2023

Verfasst von Laura Martin, Koordinierungsstelle

Vom 07. bis 11. März präsentierte sich das Begleitprojekt auf der diesjährigen didacta, Europas größter Bildungsmesse, in Stuttgart. Auf der Messe, die mehr als 56.000 Besucher*innen anzog, stellte die Koordinierungsstelle gemeinsam mit den Projektverantwortlichen des KTK-Bundesverbands und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland das Gesamtvorhaben und seine Angebote mit einem eigenen Stand in der Halle für Frühe Bildung vor. Dabei wurden die Informationsmaterialien und Medienangebote, wie beispielsweise die gemeinsame Podcast-Reihe  „Demokratie & Vielfalt Alle inklusive?“ oder eine  Blended-Learning-Plattform, aus dem Kooperationsverbund präsentiert.

Zudem erwarteten die Besucher*innen verschiedene Mitmachaktionen am Messestand: So wurden die Besucher*innen beispielsweise eingeladen Sätze zur frühen Demokratie- und Vielfaltsbildung zu vervollständigen oder Zitate á la „Dafür bist du noch zu klein!“ zu kommentieren. Im Zuge dieser Aktion und in den zahlreichen Gesprächen mit Fach- und Leitungskräften, Kindertagespflegepersonen, Fachberatungen, Fortbildner*innen, aber auch Schüler*innen und Lehrer*innen an Fachschulen konnten viele interessante und bereichernde Einblicke in den pädagogischen Alltag gewonnen werden. Im Folgenden soll ein Schlaglicht auf diese Stimmen aus der Praxis geworfen und dabei wesentliche Erkenntnisse sowie Erfahrungen zur frühen Demokratie- und Vielfaltsbildung aufgezeigt werden.
 

Demokratie in der KiTa wird schon vielerorts gelebt

Viele Besucher*innen berichteten uns, dass in ihren Einrichtungen bereits frühe Demokratiebildung durch Gremien wie Kinderkonferenzen/-parlamente und Kitaräte umgesetzt wird oder dies geplant sei. In solchen Gremien - mit kreativen Namen wie der „Spatzenrat“ - stimmen eine bestimmte Anzahl an Kindern, die aus den KiTa-Gruppen als Gruppensprecher*innen entsandt wurden, über Inhalte und Angebote mittels Bildern, Smiley-Symbolen oder anderen Hilfestellungen ab. Auch Beschwerdeverfahren werden kindgerecht realisiert, etwa in Form der sogenannten „Mi-Mi-Mittwoche“: An diesen Tagen können Kinder ihre Beschwerden einer Handpuppe – der Meckerziege „Mimi“ -  mitteilen, die ihnen Rede und Antwort steht. Die Handpuppe steht dabei nicht nur den Kindern, sondern auch den Mitarbeitenden der Einrichtung als Ansprechpartnerin bei Beschwerden zur Verfügung.

Solche strukturellen Verankerungen von Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren für Kinder stellen sicher, dass diese nicht vom Willen der Fachkräfte abhängen, sondern regelmäßig und damit verlässlich stattfinden. Wie wichtig es ist, dass die Mitbestimmung von Kindern ernst gemeint wird und keine „Scheinpartizipation“ bleibt, betonten auch die Fachkräfte, die mit uns im Gespräch waren. Sie berichteten, dass die Beteiligung in Gremien von den Kindern gut angenommen würde und sich auch die Erziehungsberechtigten analog z. B. im Elternbeirat engagiert einbrächten.

Aber auch außerhalb dieser institutionalisierten Formen der Partizipation würden die Kinder im KiTa-Alltag dazu angeregt ihre Wünsche und Bedürfnisse zu äußern und dafür einzustehen: So könnten Kinder ihre Ideen für die Ausgestaltung der Angebote, wie gemeinsame Ausflüge, einbringen. Zudem wird durch die Anwendung pädagogischer Ansätze, wie dem infans-Konzept, Kindern ermöglicht sich beispielsweise bestimmte Spielbereiche auszusuchen und so ihren individuellen Interessen nachzugehen.

Frühe Demokratiebildung bedeutet für mich den Kindern im Alltag regelmäßig Raum und Zeit für Mitbestimmung und -gestaltung zu bieten.

Wichtig sei dabei stets die Grenzen der Kinder anzuerkennen und keinen Zwang auszuüben, vor allem in Alltagssituationen wie dem Mittagsschlaf oder Essen. Auch Partizipation selbst sollte freiwillig sein. Es sei die Aufgabe der Fachkräfte mit Kindern gemeinsam ggf. nach Kompromissen und Lösungen zu suchen. Wenn z. B. ein Kind nicht schlafen will, könnten ruhiges Spielen oder Bilderbuchbetrachtungen Alternativen sein. Viele Fachkräfte sind sich der Problematik adultistischer Machtausübung gegenüber Kindern bewusst. Sie plädieren daher dafür, dass die Kinder sich ausprobieren können und dabei begleitet werden bzw. ihnen bei Bedarf Hilfestellung gegeben wird.

Viele Fachkräfte betonten auch die positiven Effekte solcher Entfaltungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für die kindliche Entwicklung und den Kinderschutz: Wenn Kinder sich einbringen und selbstbestimmte Entscheidungen treffen können, erführen sie Selbstwirksamkeit und eine Stärkung ihres Selbstbewusstseins sowie Selbstwertgefühls. Außerdem trage es insgesamt zu einer Erleichterung im Arbeitsalltag bei.
 

KiTa-Gemeinschaft als Spiegelbild einer pluralen Gesellschaft

Im Gespräch mit den Fachkräften konnten wir erfahren, dass es ihnen wichtig ist, die gesellschaftliche Vielfalt in ihren Einrichtungen in wertschätzender Weise sichtbar zu machen und anzuerkennen. So berichtete eine Fachkraft, dass ihre KiTa in ein inklusives Wohnprojekt gezogen sei, damit für die Kinder „anders sein“ positiv gewertet wird. Aus Sicht der Erzieher*innen sollte sowohl Kindern als auch Eltern vermittelt werden, dass jede*r besonders und einzigartig ist, aber auch die Gruppenzusammengehörigkeit als eine vielfältige KiTa-Gemeinschaft (etwa durch gruppenbildende Spiele) gefördert werden.

Wir sind alle anders, von außen und von innen. Wie langweilig wäre unsere Welt, wenn wir alle gleich wären?! Diversität, deren Wertschätzung und Repräsentation, sind ungemein wichtig für eine tolerante und diskriminierungsarme Gesellschaft!

Für eine diskriminierungssensible KiTa-Praxis sei es auch wichtig sich selbst zu hinterfragen und andere Sichtweisen einzunehmen. Bei Diskriminierungsfällen müsse das Gespräch mit den Betreffenden gesucht und eine klare Haltung gezeigt werden: Nämlich, dass Diskriminierung gegen die Menschenrechte verstößt, verletzt und daher nicht geduldet wird. Zentral sei auch mit Kindern die Problematik von Klischees, z. B. in Bezug auf Geschlechterrollen, zu thematisieren, damit Vorurteilen und Ausgrenzung frühzeitig entgegengewirkt werden kann. Es brauche zudem eine diskriminierungssensible Sprache sowie Informationen über relevante rechtliche Grundlagen wie die UN-Konventionen und die jeweilige KiTa-Konzeption.

Antidiskriminierung und die Förderung von Vielfalt in der KiTa seien die Grundlage dafür, dass alle Kinder die Chance auf ein angemessenes Leben und Selbstbestimmung erlangen. Inklusion wird in diesem Kontext in einem weiten Sinne verstanden: nämlich als Teilhabe jedes Kindes, egal welche Sprache es spricht, welcher Kultur es angehört, welche Hautfarbe oder geistige und körperliche Einschränkung es beispielsweise hat.
 

Herausforderungen und Bedarfe für eine partizipative und inklusive KiTa-Praxis

Eine zentrale Herausforderung für die Fachkräfte stellt nach wie vor die Zusammenarbeit mit den Eltern dar. Diese gestalte sich in der Praxis oft schwierig, sei aber auch von besonderer Bedeutung: Denn Transparenz und Teilhabe der Eltern stärke die Zusammenarbeit im Sinne einer Bildungs- und Erziehungspartnerschaft und das Vertrauen der Eltern in die Einrichtung, was sich wiederum positiv auf die Kinder übertrage. Wichtig sei eine Begegnung auf Augenhöhe, die die Eltern als Expert*innen ihrer Kinder anerkennt.

Ein wichtiger Schlüssel zur nachhaltigen Verankerung früher Demokratie- und Vielfaltsbildung sei zudem aus Sicht vieler Fachberatungen sich (verstärkt) an Kita-Leitungen und Träger zu wenden und diese für Themen der Partizipation und Inklusion zu sensibilisieren. Aber auch in Hinsicht auf Demokratie im KiTa-Team selbst sei die Leitung gefragt: Hierfür brauche es schließlich u. a. Transparenz in den Entscheidungsprozessen, die Möglichkeit der Fachkräfte ihre Ideen, Bedürfnisse und Meinungen einzubringen sowie flache Hierarchien. Es müsse eine selbstreflexive Auseinandersetzung des Teams einschließlich der Leitung mit der Frage stattfinden wer, wie und warum bestimmt.

Eine weitere wichtige Handlungsebene stellen die Fachschulen der Erzieher*innen-Ausbildung dar: Frühe Demokratiebildung, Partizipation und Vielfalt seien zwar teilweise dort schon Themen, die z. B. im Rahmen von Themenwochen behandelt würden. Dies ist jedoch noch nicht flächendeckend der Fall. Außerdem fehle es noch an Konzepten zur Verankerung dieser Themen als Querschnittsdimension, die alle Fächer und die gesamte Ausbildung umfassen.

Auch die (zunehmende) Diversität in den Einrichtungen angesichts vieler Kinder und ihrer Familien mit Migrations- und Fluchthintergrund und die damit einhergehende große Sprachenvielfalt stellen Herausforderungen dar. Hierzu würden mehr Informationsangebote in verschiedenen Sprachen für Eltern sowie Spielmaterialien und (Bilder-)Bücher für Kinder zur Thematisierung von Vielfalt, (Anti-)Diskriminierung und Kinderrechten benötigt. Auch wurde berichtet, dass die Vermittlung von Diversität in der Praxis oft abstrakt bliebe und erschwert werde durch die oftmals mangelnde Vielfalt im Team selbst.

Ein bundesweit verbreitetes Problem sei auch, dass einige Kitas Kinder mit Integrations-/Inklusionsstatus ablehnen müssten, da zu wenig Personal und Fachwissen hierzu vorhanden seien. Zudem bräuchten noch viele Fachkräfte und ihre Einrichtungen Unterstützung bei der Entwicklung bzw. Überarbeitung von Gewaltschutzkonzepten infolge des Inkrafttretens des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes.

Als wichtige Faktoren machten die Besucher*innen zudem die feste Verankerung von Demokratie- und Vielfaltsbildung sowie der Kinderrechte im KiTa-Konzept sowie das Bekenntnis jeder Fachkraft dazu, eine Verbesserung des Betreuungsschlüssels sowie Methoden und Freiraum zur Ermöglichung von Beteiligung aus. Viele Fachkräfte seien noch auf der Suche nach geeigneten Ansätzen und Methoden zur Partizipation von jüngeren Kindern (im Alter von unter drei Jahren) sowie von Kindern, die eine andere Muttersprache als Deutsch haben.

Eine inklusive und partizipative KiTa bezieht die Meinungen der Kinder mit ein, nimmt die Bedürfnisse der Kinder wahr, stärkt und erfüllt sie, begrüßt kulturelle Vielfalt und wirkt Vorurteilen entgegen.

Weitere zentrale Bedingungen und Herausforderungen für das Handlungsfeld der Kindertagesbetreuung formulierte die Koordinierungsstelle im Rahmen ihrer Beteiligung am Veranstaltungsprogramm der didacta: Am 10. März 2023 nahm Nicole Tappert gemeinsam mit Sarah Matzke vom Deutschen Kinderhilfswerk und Kompetenznetzwerk „Demokratiebildung im Kindesalter“ am Forum „Qualität als Kinderrecht“ teil, das sich einer positiven Resonanz erfreute. In der Veranstaltung stellten beide Referentinnen heraus, dass eine qualitativ hochwertige Kindertagesbetreuung eine kinderrechtsbasierte Demokratiebildung braucht. Hierzu müsse dem Fachkräftemangel und den nach wie vor starken Segregationstendenzen entgegengewirkt werden, die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz erfolgen sowie ausreichend Angebote für die Aus,- Fort- und Weiterbildung eröffnet werden. In diesem Kontext stellte Nicole Tappert auch die vielfältigen Angebote des Begleitprojekts vor.

Nach der langen Pandemiezeit haben wir uns gefreut wieder in den persönlichen Kontakt zu unseren Adressat*innen treten zu können. Wir bedanken uns bei allen Besucher*innen für die vielen spannenden Gespräche und vertieften Praxiseinblicke, aus denen wir wichtige Impulse für die Projektarbeit gewinnen konnten!