Klassismus in der Kita: Intersektionale Antworten auf armutsbedingte Ausschlüsse

Die Corona-Pandemie bringt seit Anfang 2020 bestehende gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse verstärkt ans Tageslicht. So konstatiert der 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Einkommen oder auch geringerem Bildungsstatus bei der Bewältigung der Pandemie besonders großen Hürden ausgesetzt waren und sind. Im Zuge dessen zeichnet sich ab, dass sich die prekäre Lage der ohnehin rund drei Millionen in Armut aufwachsenden Kinder und Jugendlichen und ihren Familien durch die anhaltende Pandemiesituation weiter verschärfen wird, wie ein Factsheet der Bertelsmann Stiftung bildhaft darstellt. Abgesehen von den offensichtlichen armutsverstärkenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, wie Kurzarbeit oder gar Jobverlust, haben die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus dabei ganz konkrete negative Auswirkungen auf die Lebensumstände der bereits in Armut lebenden Kinder: Wie die Nationale Armutskonferenz in einem Positionspapier anprangert, war im Besonderen der Wegfall des kostenfreien Essens in Kitas und Schulen über das Bildungs- und Teilhabepaket sowie die Schließung vieler Tafeln, die normalerweise rund eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Deutschland versorgen, zu beklagen. Daraus folgend fordert sie eine politische Gesamtstrategie, um Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen. Auch das Deutsche Kinderhilfswerk fordert auf politischer Ebene gleiche Teilhabechancen für armutsbetroffene Kinder sowie für die kommende Legislaturperiode eine Kindergrundsicherung und beruft sich dabei u. a. auf die EU-Kinderrechtsstrategie.

Während also für die Bekämpfung der strukturellen Ursachen von Armut eine politische Antwort gefunden werden muss, besteht die Aufgabe (früh)pädagogischer Institutionen und ihrer Fachkräfte wiederum darin, die Folgen von Armut für die betroffenen Kinder in den Blick zu nehmen und diese in ihrer pädagogischen Praxis professionell zu bearbeiten. Als erster Sozialisationsort außerhalb der Familie kommt dabei der Kindertagesbetreuung eine Schlüsselfunktion zu. Doch obwohl hier das Potenzial besteht, die armutsbedingten Ungleichverhältnisse nicht nur zu erkennen und zu benennen, sondern diesen auch aktiv entgegenzuwirken, spielte die Thematisierung von Armut als eigenständige Diskriminierungsform in diesem pädagogischen Setting eine bislang eher untergeordnete Rolle. Ein Grund dafür könnte sein, dass Armut und ihre Folgen sich, im Vergleich zu anderen Diskriminierungsformen, wie etwa Rassismus oder Diskriminierungen aufgrund der geschlechtlichen Identität, vielfach versteckt zeigen. Um nicht selbst zum Ort institutionalisierter und reproduzierender Diskriminierung zu werden, benötigt das Handlungsfeld der Kindertagesbetreuung also ein Bewusstsein darüber, dass (Kinder)Armut erhebliche materielle, kulturelle und soziale Ausschlüsse zur Folge haben kann, die in ihrer Konsequenz ganz maßgeblich über das weitere Leben der Heranwachsenden entscheiden.
 

Klassismus in der Kita

Doch wie zeigt sich Armut in der Kita und was ist unter Klassismus zu verstehen, der die Diskriminierung aufgrund von (Kinder)Armut wiederum weiter verstärkt? Zunächst einmal bedeutet das Aufwachsen in der Armutsklasse in der Regel, dass die Herkunftsfamilie wenig finanzielle Mittel zur Verfügung hat und für dieses wenige Geld dennoch viel und in meist unsicheren Arbeitsverhältnissen arbeiten muss. Die Auswirkungen dieser geringen finanziellen Mittel können sich auf vielzählige, aber nicht immer offensichtliche Weise zeigen. Neben den eindeutigen Auswirkungen auf materieller Ebene (Kleidung, Wohnsituation, Ernährung) hat Armut auch nicht unerhebliche Einflüsse auf der sozialen und kulturellen Ebene. Vielfach beklagt wird zum Beispiel, dass Schüler*innen aus der Armutsklasse eher niedrigere Schultypen besuchen, welche wiederum niedrigere Abschlüsse zur Folge haben und somit für die Zukunft auch weniger gut bezahlte Berufsmöglichkeiten eröffnen. Klassismus wiederum beschreibt die Diskriminierungsform aufgrund dieses sozialen Status einer Person innerhalb der Gesellschaft. Dabei richtet sich die Unterdrückung gegen die Arbeiter*innenklasse an sich und die damit in Verbindung gebrachten Praktiken, Meinungen und Lebensweisen, die diesen Menschen zugeschrieben werden. Klassismus in der Kita kann sich dabei ebenso wie Armut selbst sehr subtil und auf vielfältige Weise äußern. So wird Arbeiter*innenkindern gemeinhin unterstellt, sie würden unter Spracharmut leiden oder hätten im Vergleich zu Gleichaltrigen Sprachrückstände. Nicht unbenannt bleiben darf, dass auch der Glaube, Armut sei Ursache eigenen Verschuldens, klassistisch ist, da er die Mittelschicht als ein Ideal hervorhebt. Dabei wird nicht nur über die Vielfalt der gesellschaftlichen Realitäten hinweggesehen, sondern auch über die Tatsache, dass der Zugang zu Ressourcen wie Bildung und Vermögen maßgeblich von der Klassenzugehörigkeit abhängig ist.
Doch so subtil sich Armut und ihre Folgen offenbaren, so nachhaltig sind ihre Auswirkungen für die Betroffenen, wobei (finanzielle) Armut und Bildungsarmut oft Hand in Hand gehen.
 

Ungleichheitsverhältnisse intersektional in den Blick nehmen

Die genannten Schilderungen zu Klassismus in der Kita sollen dabei andere Diskriminierungen, wie z. B. aufgrund der geschlechtlichen Identität oder Rassismus, nicht in den Hintergrund rücken lassen. Vielmehr geht es darum, diese gemeinsam in den Blick zu nehmen, um Kindern die bestmöglichen Entwicklungschancen und damit Chancengleichheit zu ermöglichen. So weist die Initiative intersektionale Pädagogik in einer Broschüre darauf hin, dass im Zuge ihrer Identitätsentwicklung Kinder ihre Stärken und Schwächen sowie ihre einzelnen Identitätsmerkmale (Geschlecht, Körper, Alter, Aussehen, Familiengeschichte, Herkunft usw.) erkennen und dabei ebenso deren Wandel wahrnehmen. Werden diese Merkmale nicht berücksichtigt oder der Umgang mit ihnen als problemhaft angesehen, kann dies zu folgenschweren andauernden Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls führen. Doch alle Ausschluss- und Diskriminierungsmechanismen gleichsam in den pädagogischen Alltag einzubeziehen, kann sich in der Praxis als sehr herausforderungsvolle Aufgabe erweisen. Eine bewusste intersektionale Betrachtungsweise bietet dagegen die Möglichkeit, der Komplexität der gesellschaftlichen Realität, die sich auch in der Kita wiederfindet, Rechnung zu tragen. Denn vielfach sind Ungleichheitsverhältnisse miteinander verwoben und bedingen sich sogar wechselseitig. Eine intersektionale Betrachtung von den Differenzkategorien (in der klassischen soziologischen Intersektionalitätsanalyse handelt es sich dabei um race – gender – class – body) will so bestehende Macht- und Privilegienverhältnisse offenlegen und macht sie damit erst für die pädagogische Praxis zugänglich. Intersektionalität als pädagogisches Werkzeug kann folglich dabei helfen, die Kinder in ihrer Komplexität und Vielfalt mitzudenken und dabei ihre individuellen Diskriminierungserfahrungen anzuerkennen und zu thematisieren.
Eine intersektionale Perspektive frühpädagogischer Fachkräfte kann dazu beitragen Zuschreibungen zu hinterfragen und zu dekonstruieren sowie auch die dahinterliegenden Mechanismen des pädagogischen Handelns sichtbar und greifbar zu machen. Dabei beinhaltet eine intersektionale Pädagogik zum einen die Begutachtung und Reflexion der eigenen Praxis. Zum anderen braucht es einen Perspektivwechsel, der es in einem nächsten Schritt erlaubt Vielfältigkeit nicht als Defizit, sondern als Ressource zu begreifen. Weiterhin gewährleistet ein identitätskritischer Blick Identität nicht als etwas unveränderbares, sondern als beständig verändernde Option zu begreifen. Eine intersektionale pädagogische Perspektive will also folglich auf Grundlage eines reflektierenden Umgangs mit gesellschaftlicher Vielfalt eine Verbindung zwischen den gesellschaftlichen Strukturen und den subjektiven Lebenslagen herstellen.
 

Armutssensibles Handeln im intersektionalen Kontext

In Bezug auf Klassismus bedeutet diese intersektionale Herangehensweise zum einen zunächst die Reflexion der eigenen Person. Die frühpädagogischen Fachkräfte müssen sich in einem ersten Schritt mit ihrer eigenen Klassensozialisation auseinandersetzen, um Klassenverhältnisse in ihren Einrichtungen überhaupt erkennen und thematisieren zu können. Dabei muss auch die eigene Praxis, idealerweise im Team, begutachtet und reflektiert werden. Fragen, die sich dabei gestellt werden müssen, können durchaus herausforderungsvoll sein: Wo habe ich (unbeabsichtigt) in pädagogischen Settings klassistisch gehandelt? Und wie hat dies bestehende Klassen- und damit Machtverhältnisse reproduziert? Zum Beispiel kann die Aufforderung, alle Kinder sollen nach den Ferien von ihren Urlaubsorten erzählen, armutsbetroffene Kinder in Erklärungsnot bringen: Es gibt Kinder, die aufgrund der schwierigen finanziellen Situation der Herkunftsfamilie noch nie im Urlaub waren und sich durch diese Erzählaufforderung den anderen Kindern unterlegen und benachteiligt fühlen. Es gilt also im nächsten Schritt einen Perspektivwechsel einzunehmen und pädagogische Settings alternativ anders zu gestalten. Besser wäre es also zu fragen, wie sie die freie Zeit in den Ferien verbracht haben und den Kindern damit die Wahlfreiheit überlassen, was sie erzählen wollen. In der Folge sollen diese Unterschiede der Kinder nicht als Defizite gewertet, sondern als Ressource aufgefasst werden, wodurch die gesamte Kindergartengemeinschaft profitiert. Als letzter Punkt gilt es auch in Bezug auf von Armut betroffene Kinder einen identitätskritischen Blick zu verwenden und sich zu verdeutlichen, dass ihre soziale Herkunft zum einen nur ein Aspekt ihrer Identität darstellt, der mitunter, zum anderen auch nicht immer statisch sein muss.

Die Folge dieser intersektionalen Auseinandersetzung mit der eigenen pädagogischen Praxis sollte ein armutssensibles pädagogisches Handeln sein. Hierfür gibt der vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik herausgegebene Bericht Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen konkrete Anhaltspunkte, indem er die bisher wichtigsten Erkenntnisse des Modellprojekts „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ zusammenfasst. Das 2019 von der Stadt Gelsenkirchen und der RAG-Stiftung initiierte Projekt hat sich die Chancengleichheit durch Prävention und Förderung aller Kinder zum übergeordneten Ziel gesetzt. Im Zuge der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts liegt der Fokus auf der Entwicklung und Verankerung von Armutssensibilität als ein Aspekt der Prozessqualität in den Kitas. Konkret handelt es sich um die Wissensvermittlung zu den Folgen von Kinderarmut, zur Vermeidung von Stigmatisierungen und zur armutssensiblen Gestaltung der Angebote für Kinder. Somit werden die Fachkräfte nicht nur für das Thema sensibilisiert, sondern auch in ihrer Haltung gestärkt und darüber hinaus darin unterstützt, die Erkenntnisse aus diesem Prozess in ihre praktischen Handlungen zu überführen, um so armutsbedingte Barrieren abzubauen.

Dabei bedeutet armutssensibles Handeln laut dem Bericht zum einen natürlich das (pädagogische) Konzept in der Kita bewusst danach auszurichten. Folglich sollten die Betreuungskosten geringgehalten und Angebote für alle Kinder zugängliche gemacht werden. Die Arbeit in Kleingruppen gewährleistet zudem den Fokus auf Sprachbildung und Bewegung und ermöglicht Naturangebote sowie regelmäßige Ausflüge. Die konkreten Interaktionen in der Kindergruppe reichen dabei von der Stärkung der Kinder über die Thematisierung von Ausgrenzung in der Gruppe bis hin zu einem Wechselkleiderfundus. Zudem bedeutet armutssensibles Handeln in der Kita auch die Eltern und den Sozialraum sowie das Team in den Blick zu nehmen. Die Zusammenarbeit mit den Eltern beginnt dabei im besten Fall schon vor dem Eintritt in die Kita mit Hilfestellungen bei der Vormerkung und Anmeldung. Auch der Übergang in die Kita sollte durch die Fachkräfte unterstützend, z. B. im Zuge von Behördenhilfen, begleitet werden. Ist das Kind erstmal in der Kita gewährleistet ein intensiver und kontinuierlicher Informationsfluss sowie Angebote zur Begegnung, Beratung, Bildung und Beteiligung eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern. Diese soll dabei von einer konstanten wertschätzenden Haltung und Kommunikation geprägt sein. Auf Ebene des Teams braucht es für die bisher genannten Handlungsoptionen Fachwissen zum Thema Armut sowie die Sozialdaten zum Standort der jeweiligen Kita. Die Planung pädagogischer Angebote, die ohne Kosten verbunden sind sowie konkrete Fallbesprechungen sollten ebenfalls auf Teamebene angesiedelt sein. Zusätzlich benötigt es eine breite Kooperation und Vernetzung. Dazu zählen sowohl gemeinsame Projekte verschiedener Einrichtungen mit gegenseitigem Informationsaustausch als auch Angebote von Dritten in den Einrichtungen sowie die aktive Mitarbeit in Netzwerken.

Eine intersektionale Haltung von und ein armutssensibles Handeln durch die pädagogischen Fachkräfte in Kitas sollen zum Ziel haben, dass alle Kinder sich so wie sie sind mit all ihren Differenzen und Gemeinsamkeiten gesehen und wertgeschätzt fühlen. So kann die Kita also Ort eines frühen Korrektivs der genannten armutsbedingten Zuschreibungen sein und dabei maßgeblich zur Herstellung von Chancengleichheit beitragen.

Auch das Begleitprojekt „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ nimmt sich dieser Professionalisierung der pädagogischen Praxis an. Die Teilprojekte des BVKTP und der AWO konzipierten beispielsweise eine Podcast-Folge zum Thema Klassismus innerhalb der gemeinsamen Podcast-Reihe „Demokratie & Vielfalt – Alle inklusive? Der KiTa-Podcast“. Die Folge zu Klassismus wird demnächst erscheinen. Weiterhin veranstalten beide Verbände gemeinsam mit der ZWST am 06.12.2021 die trägerübergreifende Fachtagung „Klassismus in der Krise – Teilhabe von Kindern und ihren Familien stärken“.

Verfasst von Maike Zachrau