Dr. Catalina Hamacher ist Erziehungswissenschaftlerin und an der Universität Duisburg-Essen tätig. Sie hat in den letzten Jahren intensiv zu Fallkonstitutionen in der Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtung und Frühförderung geforscht und setzt sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit und der Hochschullehre im Schwerpunkt mit den Themen Inklusion im Elementar- und Primarbereich, Sorgepraktiken in der Ganztagsgrundschule sowie Teilhabe und Vulnerabilität in Bildungskontexten auseinander.
Inklusion wird unterschiedlich eng oder weit gefasst. Was genau heißt das und auf welches Inklusionsverständnis beziehen Sie sich in Ihrer Arbeit?
Inklusion ist ein Menschenrecht und eng verknüpft mit Fragen nach Teilhabe und Gerechtigkeit. Für den frühkindlichen Bildungsbereich heißt das konkret, den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen der Bildung, Betreuung und Erziehung sicherzustellen sowie dem Recht auf Partizipation, im Sinne der sozialen Zugehörigkeit aller Kinder, nachzukommen. Inklusion ist also mit rechtlich-normativen Fragestellungen verbunden. Eine inklusive Praxis erfordert damit zweierlei: Den Blick auf Gemeinsamkeiten, was eine kritische Reflexion einer vorurteilsgebundenen Erwartungshaltung erfordert und gleichzeitig die Angewiesenheit und Vulnerabilität von Kindern und Familien zu berücksichtigen, die auf spezifische Hilfen angewiesen sind. Hierzu gehören auch Tätigkeiten wie Versorgung und (körperliche) Pflege.
In der Inklusionsforschung werden dementsprechend Fragen nach gesellschaftlicher Teilhabe und Ausschluss bearbeitet. In unterschiedlichen Disziplinen haben sich in den Auseinandersetzungen hierzu uneinheitliche Bezugspunkte entwickelt und dabei wird oftmals zwischen einem engen und weiten Inklusionsverständnis unterschieden. Ersteres bezieht sich vornehmlich auf eine spezifische Gruppe von Menschen, z.B. Kinder, denen ein Förderbedarf attestiert wird oder die Eingliederungshilfe erhalten. Letzteres bezieht weitere Heterogenitätsmerkmale mit ein, wie Geschlecht und Migration. Diese Differenzierung greift jedoch in meinen Augen zu kurz, da beide Perspektiven einer kategorisierenden und personenbezogenen Logik folgen, indem sie u.a. solche Aspekte in den Fokus stellen, die entlang gesellschaftlich produzierter Normalvorstellungen als abweichend eingeordnet werden. In meinen Arbeiten beziehe ich mich vorwiegend auf Strukturen sowie Praktiken und weniger auf personenbezogene Merkmale und frage einerseits nach Barrieren und Möglichkeiten (Wie entstehen Barrieren?) sowie andererseits nach der Prozessierung von Unterschieden (Wie werden Unterschiede zwischen Menschen hervorgebracht?)
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in 2009 hat sich Deutschland zur flächendeckenden Entwicklung inklusiver Kitas verpflichtet. Auch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz gab 2021 neue Impulse zu den Rechten und Leistungen im Bereich Inklusion. Können Sie die aktuelle rechtliche Situation näher erläutern?
Oftmals entsteht der Eindruck, dass Inklusion eine neue Aufgabe ist, die erst mit der UN-Behindertenrechtskonvention Eingang gefunden hat in die Praxis der Kindertagesbetreuung. Der Umgang mit Vielfalt hat dagegen eine längere Geschichte. Bereits in den 1970er Jahren wurde die von Eltern angestoßene und von Wissenschaftler*innen getragene Idee, alle Kinder gemeinsam zu betreuen, in ersten Modellversuchen in Kindertageseinrichtungen umgesetzt. Die Umsetzung von Inklusion rückt allerdings durch die UN-Behindertenrechtskonvention in ein neues Licht, da hierüber Reformprozesse angestoßen worden sind, die zum Beispiel das Bundesteilhabegesetz (kurz: BTHG) oder das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (kurz: KJSG) betreffen.
Sowohl im KJSG als auch im BTHG stehen Inklusion und Teilhabe im Zentrum. Das KJSG stärkt die Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe, während das BTHG die Teilhabe von Menschen, die Eingliederungshilfe beziehen, zu verbessern beansprucht. Hier werden Grundsätze der UN-Behindertenrechtskonvention in Einklang gebracht mit der gesetzlichen Definition von Behinderung – verstanden als dynamischer Prozess, mit dem einstellungs- und umweltbedingte Barrieren in den Blick zu nehmen sind. In dieser Definition wird Behinderung also hergestellt, denn nichts anderes bedeutet die Verhinderung von Partizipation, die über Strukturen und deren Vermittlung in sozialen Prozessen entsteht. Damit werden Zuständigkeiten neu ausgelotet und die Eingliederungshilfe stärker mit der Kinder- und Jugendhilfe verbunden. Auch das KJSG beansprucht eine Zuständigkeit für alle Kinder – das schließt insbesondere Kinder mit und ohne Behinderung ein.
Insgesamt geht es also darum, die individuellen Bedarfe von Kindern und ihren Familien in das Zentrum zu stellen und (Hilfe-)Leistungen zukünftig an den persönlichen Bedürfnissen auszurichten. Was bedeutet das nun für den Bereich der Kindertagesbetreuung? Für die Kindertagesbetreuung wird dies zu Veränderungen an der Schnittstelle zwischen zum Beispiel der Frühförderung und der Kindertageseinrichtung führen. Offizielles Ziel ist, Heilpädagogische Kindertagesstätten abzubauen und Kindertagesstätten so umzubauen, dass beispielsweise Leistungen der Eingliederungshilfe entsprechend der im Sozialgesetzbuch VIII in Artikel 24 dokumentierten Verpflichtung in Kindertagesstätten hinein verlagert werden. Auch könnte sich die in den letzten Jahren bereits zunehmende Dokumentationspraxis in den Einrichtungen verändern.
Die gleichberechtigte Teilhabe wird also zur Leitorientierung und soll die Umsetzung einer schrittweisen Barrierefreiheit erzielen. In diesem Sinne wird Teilhabe als ein Zusammenspiel von sozialer Zugehörigkeit und Mitbestimmung der Verschiedenen auf der Basis gleicher Rechte verstanden und mit den Reformprozessen zwar die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsel akzentuiert, jedoch lässt sich gleichzeitig auch eine Beharrlichkeit bestehender Strukturen und Organisationen feststellen. Wie Kinder, Eltern und Sorgeberechtigte adressiert werden, welche Auswirkungen durch die Reformprozesse in der Kindertagesbetreuung zu erkennen sind und wie sich neue Strukturen entwickeln, sind in meinen Augen noch offene Fragen.
Wie wird Inklusion in frühpädagogischen Einrichtungen in Deutschland gegenwärtig umgesetzt? Welche Hürden und Herausforderungen gibt es aktuell und wie viele Kitas sind bereits inklusiv?
Die inklusive Praxis mit jungen Kindern ist fest etabliert und wird in öffentlichen Räumen kaum in Frage gestellt. Bereits mit der Integrationsbewegung ist die Verbreitung Heilpädagogischer Einrichtungen stark zurück gegangen und diese Entwicklung setzt sich auch weiter fort. In Deutschland wurden im Jahr 2022 in knapp 41,4 % der Einrichtungen Kinder mit Eingliederungshilfe betreut, dagegen lag die Zahl 2013 noch bei 34,1 %. Diese variieren allerdings je nach Bundesland, denn in Berlin liegt der Anteil mit 60,4 % zum Beispiel besonders hoch (vgl. Ländermonitoring frühkindliche Bildungssysteme 2023).
Als herausfordernd beschreiben Fachkräfte aktuell unter anderem den Fachkräftemangel. Laut neuen Berechnungen fehlen rund 385.900 Plätze, um dem Betreuungsbedarf nachzukommen. Dies erschwert einerseits Rechtsansprüche zu erfüllen und andererseits ist die Gesamtsituation sowohl für das Personal als auch für Familien teils untragbar geworden. Eine zentrale Herausforderung ist somit der Ausbau der Kindertagesbetreuung, denn die Vergabe der Betreuungsplätze orientiert sich vorwiegend an der Erwerbstätigkeit der Eltern. Demzufolge werden freie Plätze eher an Familien vergeben, in denen Eltern erwerbstätig sind. Benachteiligungen in der Kindertageseinrichtung entstehen damit zukünftig nicht zwangsläufig organisational, das heißt über separierende Maßnahmen, sondern über den gänzlichen Ausschluss institutionalisierter Betreuung.
Der Ausbau sollte sich dagegen nicht ausschließlich bedarfsdeckend, sondern vor allem an der Lebenswelt und den Bedürfnissen der Kinder orientieren und damit inklusiv ausgerichtet sein. Denn in der Umsetzung von Inklusion geht es vor allem darum, dass jedes Kind, das uns in einer Kindertageseinrichtung begegnet, zuallererst Kind sein darf. Das bedeutet, das Augenmerk auf Grundbedürfnisse nach Autonomie, sozialer Eingebundenheit und Kompetenzerleben zu lenken. Hierfür ist es aus meiner Sicht wichtig, den Fachkräften und Familien gut zuzuhören und eine Stimme zu geben. Das heißt zu fragen was ihnen wichtig ist und wo sie Unterstützung benötigen, um Kinder im Aufwachsen gut begleiten zu können. Hierfür ist es wichtig eine wertschätzende und anerkennende Brücke zwischen Wissenschaft und Forschung zu schlagen.
Was hat es mit dem sog. „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“ auf sich?
Mit dem Aufbau inklusiver Strukturen ist eine Vernetzung mit sozialen Diensten verbunden, wie z.B. dem Jugendamt oder einer Frühförderstelle, um individuelle Unterstützungsleistungen so früh wie möglich in Kindertageseinrichtungen zur Verfügung zu stellen. Entsprechend ist in Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention auch ein Anrecht auf die Gewährung notwendiger individueller Hilfeleistungen in dem allgemeinen Erziehungs- und Bildungssystem festgeschrieben.
Die Implementation von Maßnahmen zur Frühförderung sind allerdings an Diagnosestellungen gekoppelt, die sich auf individuelle und defizitäre Merkmale des Kindes beziehen. Die Bewilligungen von Leistungseinheiten in der Kindertagesbetreuung sind nämlich kindbezogen ausgerichtet, was zur Folge hat, dass eine Negativ-Beschreibungen des Kindes mit einer Gewährung zusätzlicher Ressourcen verbunden ist. Dabei erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass Stigmatisierungen hervorgebracht werden – was problematisch ist.
Das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma beschreibt folglich den Konflikt, dass ein Kind etikettiert werden muss, um über Antragsverfahren an notwendige Ressourcen zu gelangen. Mit den aktuellen Entwicklungen greift also das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma, neben der zunehmenden Normalisierung von Entwicklungsdiagnosen und -beobachtungen, auch zunehmend stärker in die Kindertagesbetreuung ein und führt zu Widersprüchen in der Umsetzung von Inklusion und der wertschätzenden Anerkennung von Vielfalt.
Wie sieht für Sie eine gelungene Inklusion in der pädagogischen Praxis in Kitas aus?
Das Erleben von Zugehörigkeit und das Recht auf Schutz und Hilfe sind für die Umsetzung von Inklusion elementar. Teilhabe an Bildungseinrichtungen der Mehrheitskultur werden jedoch meist unhinterfragt als erstrebenswert akzentuiert. Diese Argumentation scheint zwar plausibel, doch wirft sie auch berechtigt die Frage nach Wahlmöglichkeiten auf: Wer legt eigentlich fest, in welchem Maße und auf welche Weise Teilhabe zu geschehen hat? Teilhabe wird zunehmend standardisiert und könnte somit auch als Zwang empfunden werden, sich an einer Mehrheitskultur bzw. einer Gruppe zu beteiligen.
Inklusionsbezogene Praxis ist also gefordert, sich bewusst zu machen, dass etwas außerhalb unseres Blickwinkels liegt und sich zu fragen, was außerhalb dessen liegen könnte. Damit ließen sich Schatten ausleuchten, die ungewollt durch Maßnahmen geworfen werden und oftmals unser Alltagshandeln und auch das professionelle Handeln mit bestimmen.
Eine gelungene Inklusion könnte demnach erstens beinhalten, eine einrichtungsbezogene, an inklusiven Leitbildern orientierte Entwicklung zu initiieren. Diese ist allerdings nicht standardisierbar – denn jede Kindertageseinrichtung ist anders. Einrichtungen könnten sich zum Beispiel fragen, wo sie stehen, wohin sie möchten und wie Veränderungsprozesse angestoßen werden können. Hierfür braucht es zweitens eine enge, vertrauensvolle und inklusionsbezogene Zusammenarbeit im Team, um sich darüber zu verständigen, welchem pädagogischen Grundkonsens gefolgt wird und werden soll. Unterstützt werden kann dies beispielsweise durch Fachberatung und Supervision. Drittens umfasst inklusionsbezogenes Handeln Professionalität. Einrichtungen und Fachkräfte benötigen hierfür Zeit und einen strukturellen Rahmen, wie die Freistellung für Fortbildungen und auf Seiten der Träger das Eintreten für Inklusion.
Inklusion spricht sich normativ für die Gleichberechtigung von Menschen aus. Dem Gedanken folgend könnte Zugehörigkeit für besonders junge Kinder auch verstanden werden als das Verbunden-sein mit sich, den Anderen und der Welt. Dafür braucht es inklusive Strukturen, Kulturen und Praktiken.