Stimmen aus der Wissenschaft: Prof. Dr. Kurt-Peter Merk

Kurt-Peter Merk ist Rechtsanwalt und Dozent für Kinderrechte an der Frankfurt University of Applied Sciences. Bis 2020 war es als Professor für Recht in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Koblenz tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Generationengerechtigkeit, Generationenvertrag sowie die Kinderrechte.


Prof. Merk, welche Rolle spielen (Kita-)Kinder in kommunalen Planungsverfahren, und warum ist das Kindeswohl in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung?

Aktuell spielen Kita-Kinder in kommunalen Planungsverfahren praktisch keine Rolle. Das gilt auch für krasse Fälle, etwa wenn sich die Planung auf eine Schnellstraße vor der Kita oder ein Hochhaus im Süden der Kita bezieht. Das Kinderrecht auf Partizipation gemäß Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) wird ignoriert. Das gilt aber auch für den Kindeswohlvorrang, obwohl im kommunalen Planungsverfahren das Kindeswohl rechtlich als vorrangiger Belang betrachtet wird.
 

Welche rechtlichen Grundlagen regeln die Beteiligung von Kindern an kommunalen Entscheidungen und Planungsverfahren?

Grundlage der gemeindlichen Planung ist das im Baugesetzbuch (BauGB) geregelte Bauplanungsrecht. Die für den vorliegenden Zusammenhang zentrale Norm ist § 4 Abs. 2 Satz 1 BauGB: „Die Gemeinde holt die Stellungnahmen der Behörden und sonstigen Träger öffentlicher Belange, deren Aufgabenbereich durch die Planung berührt werden kann, zum Planentwurf und zur Begründung ein“. Gesichert ist, dass das Kindeswohl gemäß Art. 3 UN-KRK einen öffentlichen Belang darstellt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Behördlicher Träger dieses Belangs ist das Jugendamt. Um den Belang aber zum Tragen zu bringen, muss der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls für die konkrete Planung fachlich qualifiziert ausformuliert werden. Die Frage zur Formulierung des Belangs lautet: Welche Interessen der Kinder sind von der Planung betroffenen und welche Position nehmen sie dazu ein? Das kann und muss das Jugendamt nicht allein leisten. Dazu hat das Kinder- und Jugend-Stärkungsgesetz (KJSG) von 2021 eine Reihe wirksamer Normen in das SGB VIII eingefügt. In § 1 Abs. 1 SGB VIII wurde das Recht auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit ergänzt um die Selbstbestimmung, um die Partizipation zu stärken. Weiter wurden die Aufgaben des Jugendamts erweitert durch § 1 Abs. 3 Ziffer 2 SGB VIII: „Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere 2. jungen Menschen ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können“. Diese Regelung stellt das Jugendamt in die Verantwortung, Kinder und Jugendliche im gesamtgesellschaftlichen, konkret kommunalen Kontext als selbstbestimmte Akteure zu unterstützen. Das zielt nicht nur, aber vorrangig auf die kommunale Planung. Das Jugendamt hat damit als behördlicher Träger des Belangs des Kindeswohls die Aufgabe, die von der Planung betroffenen Kinder bei der konkreten Formulierung ihrer Interessen zu unterstützen und die Erarbeitung der Belangformulierung zu organisieren. Das aber ist eine schwierige Aufgabe. Ein Bebauungsplan ist ein Dokument, das fachplanerisch ein Bauprojekt präzise und umfassend darstellt.  Es hat seine eigene Fachsprache, die Experten unmittelbar verständlich ist, von Laien aber nicht sinnvoll gelesen werden kann, seien es Volljährige oder Minderjährige.  Fest steht aber, dass betroffene Kinder ein Recht auf Partizipation an Planungsentscheidungen haben. Das ergibt sich aus § 1 Abs. 3 und 8 Abs. 1 SGB VIII sowie aus Art. 12 UN-KRK der lautet:

„Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts– oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden“.

Entscheidend ist aber nicht das formale Recht, sondern seine effektive Umsetzung. Daher wurde in das SGB VIII die Regelung des § 8 Abs. 4 eingefügt: „Beteiligung und Beratung von Kindern und Jugendlichen nach diesem Buch erfolgen in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form“. Das formuliert die Aufgabe des Jugendamts, dafür zu sorgen, dass die betroffenen Kinder den konkreten Bebauungsplan auch verstehen können. Das ist eine fachliche Aufgabe der Sozialen Arbeit und eine pädagogische Aufgabe der Kita-Leitungen, die zusammen mit der Planungsbehörde die Festsetzungen des Bebauungsplans so aufbereiten müssen, dass sie selbst und die Kinder die Planung verstehen. Diese Aufgabe überfordert aktuell sowohl die Jugendämter als auch die Kita-Leitungen, einfach deshalb, weil es kein entsprechendes Fachpersonal gibt. Das wird vermutlich dazu führen, dass diese neue Aufgabe einfach nicht wahrgenommen wird und die Anfragen der Planungsbehörden weiter ignoriert werden. Es gibt keine rechtliche Handhabe das Jugendamt zu zwingen, seine dahingehende Aufgabe zu erfüllen.


Warum sind Kinder oft nicht in die Gestaltung des kommunalen Sozialraums einbezogen und welche Rolle spielt die Jugendhilfe in diesem Zusammenhang?

Das liegt daran, dass es sich bei all den Regelungen um Aufgabenzuweisungsnormen handelt, deren Erfüllung von den Bürgern nicht erzwungen werden kann. Dazu fehlt ein subjektiv-öffentliches Recht. Allerdings eröffnet hier eine weitere Neuregelung eine interessante Perspektive. § 4a SGB VIII stärkt die bürgerliche Initiative: „(1) Selbstorganisierte Zusammenschlüsse nach diesem Buch sind solche, in denen sich nicht in berufsständische Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe eingebundene Personen, insbesondere Leistungsberechtigte und Leistungsempfänger nach diesem Buch sowie ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendhilfe tätige Personen, nicht nur vorübergehend mit dem Ziel zusammenschließen, Adressatinnen und Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe zu unterstützen, zu begleiten und zu fördern, sowie Selbsthilfekontaktstellen. Sie umfassen Selbstvertretungen sowohl innerhalb von Einrichtungen und Institutionen als auch im Rahmen gesellschaftlichen Engagements zur Wahrnehmung eigener Interessen sowie die verschiedenen Formen der Selbsthilfe. (2) Die öffentliche Jugendhilfe arbeitet mit den selbstorganisierten Zusammenschlüssen zusammen, insbesondere zur Lösung von Problemen im Gemeinwesen oder innerhalb von Einrichtungen zur Beteiligung in diese betreffenden Angelegenheiten, und wirkt auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit diesen innerhalb der freien Jugendhilfe hin. (3) Die öffentliche Jugendhilfe soll die selbstorganisierten Zusammenschlüsse nach Maßgabe dieses Buches anregen und fördern“. Das ist die wohl wichtigste Neuregelung zur effektiven Durchsetzung der Partizipation von Kindern in der kommunalen Planung. Das ist zwar auch keine Anspruchsgrundlage, um die Aufgabenerfüllung seitens des Jugendamts zu erzwingen, aber wenn sich hier die Eltern und die Kinder zur gemeinsamen Interessenverfolgung organisieren und eventuell auch noch entsprechenden Sachverstand einbringen, entsteht ein politischer Druck, dem sich das Jugendamt nicht so leicht entziehen kann. Voraussetzung ist jedoch die private Initiative.
 

Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit die Beachtung und der Vorrang des Kindeswohls bei kommunalen Planungsverfahren Standard wird?

Es fehlt auf allen politischen Ebenen und insbesondere in vielen Kommunen der politische Wille die Interessen von Kindern, wenn nicht zu priorisieren, so doch angemessen finanziell auszustatten. Das liegt letztlich daran, dass Kinder keine Wähler*innen sind und daher weniger relevant. Wie beim Kinderschutz, der erst durch das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) zur Ausbildung von Kinderschutzfachkräften geführt hat, gilt auch hier, dass die besprochenen Neuregelungen im SGB VIII, die Ausbildung zu Planungsfachkräften initiieren könnten.

 

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch!

©Kurt-Peter Merk