Stimmen aus der Wissenschaft: Dr. Seyran Bostancı

Dr. Seyran Bostancı arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Begleitung der Modellprojekte der Säule „Vielfalt gestalten“ des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Außerdem forscht sie zum Thema „Institutioneller Rassismus in Kitas“ im Rahmen einer Teilstudie des Rassismusmonitors am DeZIM. Seit 2010 ist sie auch als Praxisberaterin und Fortbildnerin für Diversity und Inklusionsprozesse in (frühkindlichen) Bildungseinrichtungen bei der Fachstelle Kinderwelten am Institut für den Situationsansatz tätig. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten in Forschung und Lehre gehören die Themenbereiche Migration, Bildungsungleichheit, Diversität, Rassismus, Inklusion, frühe Kindheit und Zivilgesellschaft. Mehr Informationen zu Dr. Seyran Bostancı finden Sie hier.

 

Rassismus ist ein Problem, dass auch vor der Kita nicht Halt macht. Wie kann sich Rassismus in diesem Setting äußern? Hat dies in den letzten Jahren zugenommen?

Institutioneller Rassismus kommt in alltäglichen Situationen und Interaktionen zum Vorschein, durch Routinen und diskriminierende Annahmen. Dabei zeigt sich Rassismus in verschiedenen Formen und Situationen in der Kita. Bevor ich auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen eingehe, möchte ich kurz erläutern, was ich unter Rassismus verstehe, denn es gibt kein einheitliches Verständnis. Ich verstehe Rassismus als gesellschaftliches Strukturprinzip und Alltagsphänomen, was Menschen aufgrund von rassistischen Markierungen vom Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen, wie bspw. Wohnen, Bildung und Arbeit, ausgrenzt. Somit weist Rassismus Menschen ihre Position im sozialen Gefüge zu. Rassismus betrifft alle Menschen in einer Gesellschaft, jedoch auf unterschiedliche Weise. Manche erfahren dadurch Privilegien, andere wiederum werden benachteiligt. Ich betrachte Rassismus also nicht nur auf der Ebene von Vorurteilen und sehe Rassismus auch nicht nur im intentionalen Handeln. Oft zeigt sich Rassismus sehr lautlos und ist schwer zu erkennen, weil es sich in Normalitätsvorstellungen, Wissensbeständen und normal erscheinenden Handlungsabläufen niederschlägt.

In der Kita kann sich Rassismus durch rassistische Wissensbestände in der Lernumgebung, in den Spielmaterialien und der Ausstattung zeigen. Dies ist etwa der Fall, wenn nur weiße Kinder in den Spielmaterialien repräsentiert sind oder rassistisch markierte Menschen in stereotyper Form dargestellt werden. Aber auch in Interaktionen zwischen pädagogischen Fachkräften und Familien oder Erwachsenen und Kindern können rassistische Diskriminierungen vollzogen werden. Rassismus zeigt sich in der Kita z.B. dann, wenn pädagogische Fachkräfte für das Verhalten eines Kindes Erklärungen heranziehen, die auf seine Religion, Sprache, (zugeschriebene) Herkunft und seinen Hautton rekurrieren und zeitgleich eine Abwertung dieser Merkmale stattfindet. Eine Mutter berichtete mir bspw., dass ihr Sohn als „Pascha“ betitelt wurde, weil er den Tischdienst nicht machen wollte. Auch Kinder können sich bspw. im Aushandeln ihrer Spielinteressen auf rassistisches Wissen beziehen und sich an Ausschlusspraktiken beteiligen.

Zudem kann sich Rassismus in normal erscheinenden Abläufen und Routinen sowie in der Verteilung von Positionen einer Kita zeigen: Wer hat welches Sagen, wer putzt die Kita, wer ist in der Küche, wer ist auf der Leitungsebene? Gibt es dort einen systematischen Unterschied in der Verteilung von bestimmten Identitätsaspekten?

Ob Rassismus in den letzten Jahren in den Kitas zu- oder abgenommen hat, lässt sich wissenschaftlich nicht eindeutig beantworten. Es herrscht ein großer Forschungsbedarf zum Thema Rassismus in Kitas. Was positiv hervorgehoben werden kann, ist, dass es zunehmend eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt, was eine Thematisierbarkeit eröffnet, Aushandlungsprozesse anstößt und im besten Fall Veränderungsprozesse nach sich ziehen kann. Auch dieser Diskurs macht vor Kitas nicht halt. Kitas können das Potenzial haben, rassismuskritische Transformationen in Gang zu setzen, die sich dann gesamtgesellschaftlich positiv auswirken können.

 

Sie haben in einem Forschungsprojekt den Umgang von Eltern mit institutionellem Rassismus in Kitas im postmigrantischen Berlin untersucht. Wie begegnen Eltern Rassismuserfahrungen in der Kita?

Die Familien, mit denen ich gesprochen habe, begegnen Rassismus auf unterschiedliche Weise. Manche versuchen durch Interventionen Rassismus innerhalb der Einrichtung zu thematisieren. Sie erhoffen sich dadurch, Reflexionsprozesse bei den pädagogischen Fachkräften anzustoßen und somit Rassismus in der Kita zu minimieren. Sie bringen diskriminierungskritische Bildungsmaterialien in die Kitas oder versuchen in einen Dialog mit den pädagogischen Fachkräften über ihre Rassismuserfahrungen innerhalb der Kita zu gehen. Ferner versuchen sie auch diskriminierende Momente zu antizipieren, um dann das rassistische System zu umgehen. Das zeigt sich bspw. darin, wenn Eltern bei der Kitaanmeldung ihre Herkunft oder Religion verheimlichen, weil sie befürchten, dadurch Ausschlussprozesse zu erleben und den Kitaplatz nicht zu bekommen.

Eltern gehen auch in eine Art „Schadensbegrenzung“ über, wenn sie feststellen, dass Interventionsversuche oder das Antizipieren und der Versuch rassistische Momente zu umgehen, nichts bringen oder gar blockiert werden. Sie versuchen dann z.B. außerhalb der Kita ihre Kinder zu empowern. Der letzte Schritt, den Eltern bei rassistischen Erfahrungen gehen können, ist die Exit-Strategie. Das heißt, sie melden ihr(e) Kind(er) ab, um sie und sich vor weiteren rassistischen Diskriminierungserfahrungen zu schützen.

Interessant ist auch, dass Eltern Rassismus in der Kita herunterspielen. Das lässt sich auf verschiedene Beweggründe zurückführen: Zum einen möchten sie eine „gute Beziehung“ mit den pädagogischen Fachkräften nicht gefährden, oder sie wollen „konform“ handeln und nicht negativ auffallen, um z. B. den Kitaplatz nicht zu gefährden. Denn Kitas können das Vertragsverhältnis auflösen, wenn sie feststellen, dass das Vertrauensverhältnis nicht mehr gegeben ist. Meine Forschung hat gezeigt, dass eine Beschwerde über Rassismus von Kitas als Vertrauensbruch interpretiert und somit Familien gekündigt werden kann. Solche Verfahren blockieren Aushandlungsprozesse in Richtung Anti-Rassismus.

 

Wie können pädagogische Fachkräfte Rassismus in ihren Einrichtungen – bspw. innerhalb des Kollegiums, der Elternschaft oder unter den Kindern – begegnen? Welche (präventiven) Strategien gibt es?

In erster Linie brauchen pädagogische Fachkräfte Räume und Zeit zur Reflexion, um sich über Diskriminierung und Rassismus im eigenen Handeln bewusst zu werden. Dies geht nur, wenn sie sich von ihrem Praxis-Alltag zurückziehen können. Dies ist jedoch oft nicht möglich. Pädagogischen Fachkräften werden unzählige Aufgaben und Anforderungen gestellt, trotz einem Mangel an Ressourcen, wie Geld, Zeit und Personal. Daher braucht es eine strukturelle Veränderung auf mehreren Ebenen.

Meine Forschung hat gezeigt, dass es in Kitas kein etabliertes einheitliches Beschwerdemanagement für den Umgang mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen gibt. Die Fachkräfte entscheiden ganz unterschiedlich, ob und wie sie Rassismus in ihren Einrichtungen begegnen. Diskriminierung ist jedoch verboten. Daher fordern bereits seit Jahren zivilgesellschaftliche Akteur*innen und Organisationen unabhängige Beschwerdestellen für Diskriminierung in der frühkindlichen Bildung bundesweit zu implementieren, an die sich Eltern im Fall einer Diskriminierung wenden können. Diese Stellen müssen entsprechend der zivilgesellschaftlichen Forderungen (bspw. von BeNeDiSK) mit ausreichenden rechtlichen Befugnissen ausgestattet werden, um Beschwerden wirksam nachgehen zu können. Dazu braucht es klar regulierte Verfahren, wie in Fällen von Diskriminierung vorzugehen ist und welche Sanktionen umgesetzt werden können.

Da ein großer Teil der Fachkräfte weiß positioniert und oft selbst nicht direkt von Rassismus betroffen ist, bleibt ihnen rassistische Diskriminierung als Erfahrungshorizont meist unsichtbar. Es wäre daher wünschenswert, wenn die Fachkräfte die Erfahrungen und Interventionsversuche seitens der Familien, die Rassismus thematisieren wollen, ernst nehmen und darauf eingehen. Negationen der Erfahrungen oder Rechtfertigungen seitens pädagogischer Fachkräfte, bspw. durch Äußerungen wie „Das habe ich ja gar nicht so gemeint“ oder „Rassismus kann ich mir hier in der Kita nicht vorstellen“, führen dazu, dass Rassismus innerhalb der Einrichtung nicht thematisiert und folglich nicht angegangen wird. Solche Reaktionen kommen einer Legitimation gleich. Eine rassismuskritische Zusammenarbeit mit Familien sowie innerhalb des Teams hilft (Gesprächs-)Räume zu öffnen und Rassismus in der Einrichtung zu erkennen. Dadurch können pädagogische Fachkräfte den unsichtbaren institutionalisierten Formen von Rassismus auf die Spur kommen. Denn es braucht oftmals ein Gegenüber, das auf die zum Teil unbewussten diskriminierenden Handlungsmuster hinweist.

Als Praxisberaterin und Fortbildnerin für pädagogische Fachkräfte und Kitas kann ich als weitere präventive Strategie empfehlen, sich auf eine antidiskriminierungskritische Organisationsentwicklung zu begeben. Dazu braucht es die Bereitschaft von allen beteiligten Akteur*innen, einschließlich der Trägerschaft, der Leitungsebene und des gesamten Teams. Hierfür braucht es ein Lernklima, das geprägt ist von Fehlerfreundlichkeit und einer diskriminierungskritischen Perspektive, die die (Re-)Produktion von Diskriminierung minimiert.

Die wohl effektivste präventive Maßnahme, um Rassismus entgegenzuwirken, ist die Implementierung und der Ausbau von bundesweit diskriminierungskritischen und diversitätsbewussten Curricula in der Erzieher*innen-Ausbildung. Der Umgang mit Heterogenität unter Berücksichtigung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen wie Sexismus, Rassismus, Heteronormativität, Ableism, Klassismus, Adultismus und weitere ungleichheitsgenerierende Mechanismen muss als Querschnittsthema zum Bestandteil der pädagogischen Arbeit formuliert werden. Wir leben in einer postmigrantischen Gesellschaft, die stark durch und von Migration sowie Postkolonialität geprägt ist. Daher braucht es rassismuskritische, dekoloniale und intersektionale pädagogische Ansätze, die angehende pädagogische Fachkräfte im Umgang mit Vielfalt professionalisieren. Durch das Wissen und die Reflexion der eigenen Eingebundenheit in ein ungleichheitsgenerierendes System können pädagogische Fachkräfte Handlungsalternativen in ihrer pädagogischen Praxis entwickeln, die diskriminierenden Praktiken entgegenwirken.

 

Wie kann eine rassismuskritische Pädagogik in Kitas aussehen?

Eine rassismuskritische Pädagogik ist ein Baustein in der Minimierung von Diskriminierung in der Kita. Diskriminierungsformen erscheinen oft nicht eindimensional, sondern verschränkt und mehrdimensional. Daher braucht es eine intersektional ausgerichtete Pädagogik, die alle Diskriminierungsformen in ihrer Gleichzeitigkeit in den Blick nimmt. Die Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung© (VBuE) als inklusives Praxiskonzept kann ein möglicher Weg sein, um Diskriminierung und somit auch Rassismus in der Kita abzubauen. Es verfolgt das Ziel, dass alle Kinder ihr Recht auf (hochwertige) Bildung und Teilhabe wahrnehmen und somit ihre Potentiale entfalten können. Dem Ansatz der VBuE, der von der Fachstelle Kinderwelten am Institut für den Situationsansatz entwickelt und vermittelt wird, liegt ein erweitertes Verständnis von Inklusion zugrunde. Im Fokus steht stets der Zusammenhang von Vorurteilen und Diskriminierung in ihrer Wirkung auf die Identitätsentwicklung und Lernprozesse von Kindern. Der Ansatz fordert pädagogische Fachkräfte auf, aktiv gegen die Mechanismen von Diskriminierung in jeglicher Form vorzugehen.

Das Konzept beinhaltet vier Ziele, die eine Orientierung für die pädagogische Arbeit mit Kindern sowie für die Zusammenarbeit mit Eltern, im Team und für die Leitungsarbeit liefert: Die Ich-Identität und Bezugsgruppen-Identität zu stärken (1), Respekt für Vielfalt zu entwickeln (2), kritisches Denken über Vorurteile und Diskriminierung anzuregen (3) und das Aktivwerden gegen Unrecht und Diskriminierung zu unterstützen (4). Die vier Ziele bauen aufeinander auf und sind eingebettet in fortwährende Lernprozesse. Im Fokus stehen zunächst die Selbstreflexionsprozesse der pädagogischen Fachkräfte, die sie dabei unterstützen sich ihres eigenen soziokulturellen Hintergrundes und dessen Einflusses auf das berufliche Handeln bewusst zu werden. Sie sind nämlich diejenigen, die durch ihre eigenen verinnerlichten Normalitätsvorstellungen („man macht das so“) sowohl die Gestaltung der Interaktion mit den Kindern als auch der Institution, was etwa die Auswahl an Materialien sowie die Kommunikationskultur inklusive der Zusammenarbeit im Team sowie mit den Familien umfasst, prägen.

Erst durch das Bewusstwerden der eigenen kulturellen Prägung und der Normalitätsvorstellungen, also auch durch das Erkennen der eigenen Verstrickung in gesellschaftliche Machtverhältnisse, können Einseitigkeiten, die Barrieren zur Teilhabe von Kindern, Familien und Kolleg*innen nach sich ziehen können, in der Praxis wahrgenommen werden. Pädagogische Fachkräfte werden ermutigt, wahrzunehmen und zu überprüfen, inwiefern sie in ihrem Handeln, in der Kommunikation und Interaktion, dazu beitragen, dass bestimmten Menschen oder sozialen Gruppen die uneingeschränkte Teilhabe verwehrt wird oder bestimmte Personen(-gruppen) bevorzugt behandelt werden. Daher werden in Fortbildungssettings die Selbstreflexion in Bezug auf Einseitigkeiten, Vorurteile, Ausgrenzung und Diskriminierung umfangreich angeregt und im nächsten Schritt Praxisveränderungen eingeleitet, die Einseitigkeiten und Diskriminierung in der Lernumgebung, in Interaktionen und im eigenen Denken und Handeln minimieren.

 

Herzlichen Dank für das informative und anregende Gespräch!

© Dr. Seyran Bostancı