Dr. Sabine Lingenauber ist seit 2004 Professorin für Integrationspädagogik an der Hochschule Fulda. Sie entwickelte den berufsbegleitenden Studiengang „Frühkindliche inklusive Bildung“, den sie seit 2009 leitet. Zu ihren Lehr- und Forschungsgebieten gehören die Inklusionspädagogik, der Reggio Emilia Ansatz und die Bildungsbeteiligung von Kindern mit Behinderungen. Sie erforschte Risiko- und Gelingensbedingungen der Übergangsprozesse von integrativen Kindertageseinrichtungen in Grundschulen und begleitete das Projekt „Stärkung der Bildungs- und Erziehungsqualität in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen und Gestaltung des Übergangs (TransKiGs)“ in Thüringen wissenschaftlich.
Wir sprachen mit Prof. Dr. Lingenauber über die Möglichkeiten einer partizipativen und inklusiven Gestaltung des Übergangs Kita-Grundschule. Dieser Transitionsprozess bildet schließlich einen der Schwerpunkte unseres Begleitprojekts „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ im Rahmen der aktuellen Förderphase des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ (2020-2024).
Der Übergang von der Kita zur Grundschule stellt eine wichtige Zäsur für Kinder und ihre Eltern dar. Was brauchen sie, um solche Übergänge konstruktiv bewältigen und mitgestalten zu können?
Die individuellen Ausgangslagen von Familien im Übergangsprozess unterscheiden sich erheblich voneinander. Kinder und Eltern verfügen daher über ganz unterschiedliche Ressourcen und Kompetenzen. Für das Gelingen der Übergangsprozesse sind nicht allein die Kompetenzen des Kindes entscheidend, sondern die Partizipation aller am Übergang beteiligten Akteursgruppen: Kinder, Eltern und Pädagog*innen (Erzieher*innen und Grundschullehrer*innen). Die Aufgabe der Fachkräfte besteht zum einen darin, den Übergang unter Berücksichtigung der individuellen Ausgangslagen zu begleiten. Zum anderen geht es darum, die unterschiedlichen Bedürfnisse, Erwartungen und Ängste von Kindern und Eltern im Übergangsprozess zu berücksichtigen. Auf dieser Grundlage kann die Partizipation sämtlicher Eltern und Kinder und damit der Übergangsprozess gelingen.
Welche Formen der Zusammenarbeit am Übergang Kita-Grundschule gibt es? Wie können Kinder und Eltern diesen Transitionsprozess aktiv mitgestalten?
Die Mitgestaltung sämtlicher am Übergangsprozess beteiligter Akteur*innen ermöglicht Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Akteur*innen (Kinder, Eltern, Erzieher*innen und Grundschullehrer*innen) und innerhalb der Akteursgruppen. Ziel der Interaktionen auf sämtlichen Ebenen ist die Entwicklung unterstützender Beziehungen im Übergangsprozess.
Ich unterscheide insgesamt 7 Interaktionsebenen:
- Erzieher*in & Grundschullehrer*in,
- Erzieher*in & Grundschullehrer*in & Kindergarteneltern,
- Erzieher*in & Grundschullehrer*in & Kindergartenkind,
- Kindergarteneltern & Grundschuleltern,
- Kindergartenkind & Grundschulkind,
- Kindergartenkind & Erzieher*in & Grundschullehrer*in & Kindergarteneltern,
- Kindergarteneltern & Kindergartenkind.
Das „Ebenenmodell professionellen Handelns“ zeigt die Möglichkeiten der Partizipation sämtlicher Akteur*innen in unterschiedlichen Konstellationen auf. Es dient Fachkräften der Kindertageseinrichtungen und Grundschulen als Instrument, die Umsetzung der Partizipation im Übergangsprozess zu reflektieren und systematisch zu erweitern. Forschungsergebnisse zeigen, dass die Interaktion zwischen Kindergarteneltern und Kindergartenkind bislang kaum durch professionelles Handeln gestaltet wird. Im Rahmen eines Praxisforschungsprojektes entwickelten wir daher ein Instrument, das den Dialog zwischen Eltern und Kindern im Übergangsprozess systematisch unterstützt: Das „Übergangsbuch“. Sowohl während des letzten Kindergartenjahres als auch des ersten Grundschuljahres dokumentieren Eltern und Kinder darin gemeinsam die Erfahrungen und Eindrücke des Kindes. Dieser Prozess wird im letzten Kindergartenjahr unterstützt durch den*die Erzieher*in und im ersten Grundschuljahr durch den*die Grundschullehrer*in fortgeführt. Die Praxiserfahrungen mit über tausend Familien zeigen, dass das Übergangsbuch die Partizipation sämtlicher Kinder unterstützt und den Fachkräften hilft, besondere Ausgangslagen wie Mehrsprachigkeit oder Beeinträchtigungen wertschätzend zu berücksichtigen.
Ein gelungener Übergang von der Kita in die Grundschule ist nur möglich, so die verbreitete Annahme, wenn Kinder schon in der Kita auf das Lernen in der Schule vorbereitet werden. Was kann Schule umgekehrt von Kita lernen, etwa in Bezug auf Beteiligungskonzepte?
Die Frage lässt sich sowohl mit Blick auf die Kinder als auch die Eltern beantworten. Kindertageseinrichtungen verfügen über umfassendes Wissen: Sie kennen die individuellen Ausgangslagen, Ressourcen und Unterstützungsbedarfe der Kinder und Familien. Um einen gelingenden Übergang zu gestalten, sind Grundschullehrer*innen auf dieses Wissen angewiesen. Zugleich sind Eltern als Expert*innen ihrer Kinder anzuerkennen: Lehrer*innen sollten das elterliche Wissen über die Kompetenzen und Bedürfnisse des Kindes im Sinne einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft in die Gestaltung des Übergangs einbeziehen. In Kindertageseinrichtungen werden bereits vielfältige Formen der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit Eltern realisiert. Grundschulen könnten daran anknüpfen, um die Erziehungs- und Bildungspartnerschaften über den institutionellen Wechsel hinaus sicherzustellen. Inklusion kann meines Erachtens nur gelingen, wenn neben den Fachkräften der Kindertageseinrichtung und den Lehrer*innen der Grundschule auch die Eltern als Expert*innen in die Übergangsgestaltung einbezogen werden (Ebene 6).
Mit welchen Herausforderungen werden Eltern von Kindern mit Behinderung am Übergang von einer integrativen Kita in die (Regel-)Grundschule konfrontiert?
In einem von Prof. Dr. Maria Kron und mir betreuten Promotionsprojekt erforscht Janina von Niebelschütz die Übergangsprozesse von Kindern mit Behinderung aus der integrativen Kindertageseinrichtung in die Regelgrundschule (Einzelintegration). Die Ergebnisse der kurz vor dem Abschluss stehenden Doktorarbeit zeigen, dass der Übergangsprozess für Eltern beinträchtiger Kinder sowohl im letzten Kindergartenjahr als auch im ersten Grundschuljahr mit Unsicherheiten und Ängsten verbunden ist. Die Fallstudien verdeutlichen erstens, die Schwierigkeiten für Eltern, Zugang in die Regelschule für ihre Kinder zu erhalten. Zweitens, verweisen sie auf eine konstante Unsicherheit und damit verbundene Ängste der Eltern, dass ihre Kinder während des ersten Grundschuljahres wieder aus der Regelschule ausgesondert werden.
Wie kann eine inklusive und partizipative Gestaltung des Übergangs Kita-Grundschule auch in Zeiten der Corona-Pandemie gelingen?
Im berufsbegleitenden Studiengang „Frühkindliche inklusive Bildung“ der Hochschule Fulda bearbeiten Studierende in einem Praxisprojekt die Aufgabe, institutionsübergreifende Übergangsprozesse partizipativ zu gestalten. Im Rahmen dieser Modulaufgabe entstanden in den zurückliegenden Monaten zahlreiche innovative Beispiele zur partizipativen Gestaltung der Übergangsprozesse in Zeiten der Corona-Pandemie. Ich möchte zwei Beispiele hervorheben, die ich der Interaktionsebene „Kindergartenkind & Grundschulkind“ zuordne. Kinder können bezogen auf den zukünftigen Schulbesuch Vorfreude, aber auch Unsicherheiten, Sorgen und Ängste empfinden. Um Sicherheit im Übergangsprozess zu gewinnen, ist die Interaktion mit Grundschulkindern für alle Kindergartenkinder sehr wichtig. Zum Beispiel können Kindergartenkinder ihre Fragen zur Schule meiner Erfahrung nach viel leichter Grundschulkindern stellen als Lehr*innen. Indem sie Informationen über den zukünftigen Lernort erhalten, können Unsicherheiten und Ängste abgebaut werden.
Einige Studentinnen haben aufgrund der Pandemie „ihre“ Kindergartenkinder im Übergang dazu angeregt, Fragen zum zukünftigen Schulbesuch in einem Brief an ehemalige Kindergartenfreunde zu schicken, die schon die Grundschule besuchen. Zu den Eltern dieser Kinder bestand z. T. noch Kontakt, da jüngere Geschwisterkinder die Kindertageseinrichtung besuchen. In einem Fall wollten die Kindergartenkinder von ihrem ehemaligen Kindergartenfreund wissen: „Muss man in der ersten Klasse weinen?“ Das Grundschulkind antwortete in seinem Brief an die Kindergartenkinder: „Einmal musste ich schon weinen.“ Zugleich betonte es jedoch in seinem Brief: „Ich mag gerne in die Schule gehen.“ Mit dem Briefwechsel konnte das Grundschulkind den Kindergartenkindern vermitteln, dass es eigene Unsicherheiten im Übergangsprozess bewältigt hat.
Eine weitere Strategie ermöglichte den Kindergartenkindern – anstelle eines Schulbesuchs – filmische Einblicke in die neue Lernumgebung, und zwar aus Kindperspektive. In Absprache mit der Grundschullehrerin bat die Studentin drei Zweitklässlerinnen (ehemalige Kindergartenkinder) mit ihr einen Rundgang durch die Schule zu filmen. Während die Studentin die Kamera führte, präsentierten die Schulkinder als Expert*innen die Räume der Grundschule. Die Videoaufnahme brachte die Studentin anschließend mit in die Kindertageseinrichtung und schaute sich die Aufnahme mit den zukünftigen Schulkindern an. Eine Filmdokumentation gibt den Kindergartenkindern die Möglichkeit, sich die Aufnahmen mehrmals anzusehen und immer wieder neue Dinge in der Schule zu entdecken. Diese Interaktion ermöglichte trotz räumlicher Distanz eine Auseinandersetzung mit dem neuen Lernort Grundschule.
Vielen Dank für das interessante Gespräch!
Literaturhinweise für weiterführende Informationen:
- Jindal-Snape, Divya/Hannah, Elizabeth F. S.: Reconceptualising the inter-relationship between social policy and practice: Scottish parent’s perspectives. In: Margetts, Kay/Kienig, Anna (Hrsg.): International Perspectives on Transition to School: Reconceptualising beliefs, policy and practice. New York: Routlege 2013, S. 122-132.
- Petriwskyi, Anne: Inclusion and Transition to School in Australia. In: Margetts, Kay/Kienig, Anna (Hrsg.): International Perspectives on Transition to School: Reconceptualising Beliefs, Policy and Practice. New York: Routledge 2013, S. 33-42.
- Lingenauber, Sabine/Niebelschütz, Janina L. von: Das Übergangsbuch. Kinder, Eltern und Pädagoginnen dokumentieren den Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Schule. Bochum, Freiburg: Projektverlag (2., erweiterte Auflage) 2015.
- Lingenauber, Sabine/Niebelschütz, Janina L. von: Eltern als Gestalter des Übergangs Kindertageseinrichtung – Grundschule. In: Hess, Simone (Hrsg.): Grundwissen Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen und Familienzentren. Berlin: Cornelsen 2012, S. 133–141.
- Lingenauber, Sabine: Bildungsqualität durch Partizipation. Kinder und Eltern als Akteure im Übergangsprozess. In: Zeitschrift für Inklusion Bd. 4, Nr. 3, Juli 2010. URL: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/123/123, Zugriff am 15.3.2021.
- Lingenauber, Sabine: Übergang Kindertageseinrichtung/Grundschule. In: Lingenauber, Sabine (Hrsg.): Handlexikon der Integrationspädagogik (Band 1: Kindertageseinrichtungen). Bochum, Freiburg: Projektverlag 2008, S. 198-203.
- Griebel, Wilfried/Niesel, Renate: Transitionen. Fähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern, Veränderungen erfolgreich zu bewältigen. Weinheim: Beltz 2004.
- Dockett, Sue/Perry, Bob: Transitions to School. Perceptions, Expectations, Experiences. Sydney: UNSW Press 2007.