Stimmen aus der Wissenschaft: Prof. Dr. Jörg Maywald

Prof. Dr. Jörg Maywald ist Honorarprofessor für Kinderrechte und Kinderschutz an der Fachhochschule in Potsdam. Er ist Mitbegründer des Berliner Kinderschutz-Zentrums und seit 1995 Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind. Als Sprecher der National Coalition Deutschland ist er seit 2002 an der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention beteiligt.

Mit Prof. Dr. Jörg Maywald sprachen wir über die aktuellen Herausforderungen in der Debatte rund um die Kinderrechte in Deutschland und die Bedeutung und Möglichkeiten der Kindertagesbetreuung in diesem Kontext.
 

Wo sehen Sie die aktuellen Herausforderungen in der Debatte rund um die Kinderrechte in Deutschland?

Kinderrechte haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, sowohl in der Politik als auch im fachlichen Diskurs. Fast alle politischen Parteien setzen sich zumindest in ihren Programmen für eine Stärkung der Kinderrechte ein. Die meisten Eltern und praktisch alle pädagogischen Fachkräfte wissen heutzutage, dass Kinder nicht nur Bedürfnisse, sondern auch Rechte haben. Allerdings gibt es bei der Verwirklichung der in der UN-Kinderrechtskonvention und im nationalen Recht niedergelegten Rechte weiterhin große Defizite. Dies gilt sowohl für die rechtliche als auch für die tatsächliche Umsetzung. Außerdem findet in den pädagogischen Einrichtungen Menschen- und Kinderrechtebildung noch viel zu wenig statt. Ein besonders wichtiger Schritt in rechtlicher Hinsicht wäre die im Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung fest vereinbarte Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz, die endlich vollzogen werden sollte. Denn Kinder sind keine kleinen Erwachsene, sondern sie haben Anspruch auf einen besonderen menschenrechtlichen Schutz.
 

Wie kann die Kindertagesbetreuung konkret dazu beitragen, das Recht von Kindern auf Partizipation umzusetzen? Welche Bedeutung kommt der Kindertagesbetreuung hier in der Biographie von Kindern zu?

Jedes Kind hat von Anfang an das tiefe Bedürfnis dazuzugehören und beteiligt zu sein. Partizipation verbindet sich mit der Erfahrung, wichtig zu sein und etwas zu bewirken. Sie ist daher ein wesentliches Element einer an den Potentialen der Kinder ansetzenden inklusiven Bildung und Erziehung. Kinder verbringen heute zumeist mehr Lebenszeit in der Kita als in der Grundschule. Die Kindertagesbetreuung hat daher in Ergänzung zur Familie einen sehr großen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern, darunter auch auf die moralische und politische Sozialisation. Gemäß § 22 Abs. 2 SGB VIII gehört zum Förderauftrag von Kitas die „Vermittlung orientierender Werte und Regeln“. In einer Gesellschaft, die von großer Vielfalt geprägt ist, braucht es Regeln, die für alle gelten und die von allen akzeptiert werden können. Der zentrale Bezugspunkt der auf Kinder bezogenen Werte und Regeln ist die weltweit geltende UN-Kinderrechtskonvention, die sowohl Schutz- und Förderrechte als auch wichtige Beteiligungsrechte enthält.
 

In der Kita verantworten vor allem die Fachkräfte sowie die Leitung die Umsetzung der Rechte von Kindern. Welche Anforderungen stellt dies an das frühpädagogische Fachpersonal?

Die Verwirklichung der Kinderrechte findet vor allem im Alltag der Kita statt: bei der Begrüßung, während Spiel-, Angebots- und Ruhezeiten, bei den Mahlzeiten oder in Pflegesituationen. Oft gilt es, unterschiedliche Rechte der Kinder in eine kindgerechte Balance zu bringen, zum Beispiel wenn ein Kind bei kaltem Wetter ohne angemessene Kleidung nach draußen gehen will. In diesem Fall steht das Recht des Kindes auf bestmögliche Gesundheitsfürsorge und sein Recht auf Beteiligung in einem Spannungsverhältnis. Pädagogische Fachkräfte müssen in der Lage sein, situationsbezogen zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Kindes, den vielfältigen Partizipationsmöglichkeiten und der erwachsenen Verantwortung für die Verwirklichung sämtlicher Kinderrechte zu entscheiden. Dies ist mit hohen Anforderungen verbunden, die Gegenstand der Aus- und Fortbildungen sein sollten.
 

Erkennen Sie eine flächendeckende Institutionalisierung von Beteiligungsrechten von Kita-Kindern in Deutschland?

Zunächst einmal werden Beteiligungsrechte nicht „eingeräumt“ oder „verliehen“, sondern sie stehen als Menschenrechte jedem Kind von Geburt an zu, einfach weil es ein Kind ist. Einrichtungen für Kinder sind verpflichtet, diese Kindermenschenrechte zu achten, zu schützen und umzusetzen. Von einer Institutionalisierung kann insofern gesprochen werden, als bestimmte institutionelle Formate zur Förderung der Verwirklichung dieser Rechte vorgesehen sind, wie zum Beispiel ein Morgenkreis, eine Kinderversammlung oder die Ausrichtung des gesamten Konzepts der Einrichtung an den Rechten der Kinder. Nach meiner Erfahrung dominiert weiterhin ein bedürfnisorientierter Ansatz und nur ein kleiner Teil der Kitas bzw. Träger hat sich auf den Weg gemacht, den Kinderrechtsansatz auf allen Ebenen zu verwirklichen. Hier bleibt noch viel zu tun.
 

Werden aus Ihrer Sicht Kinderrechte/Beteiligungsrechte von Kindern in der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte ausreichend behandelt? Wo erkennen Sie Nachholbedarf?

Gemäß Artikel 29 der UN-Kinderrechtskonvention gehört die „Achtung vor den Menschenrechten“ zu den zentralen Bildungszielen in pädagogischen Einrichtungen. Um diesem Ziel gerecht zu werden, müssen frühpädagogische Fachkräfte die Menschen- und Kinderrechte kennen und in ihrer Praxis umsetzen können. Die Partizipationsrechte sollten in den Ausbildungen nicht isoliert, sondern im Kontext sämtlicher Kinderrechte behandelt werden, denn ebenso wie Kinderschutz die Beteiligung des Kindes braucht, ist eine wirksame Beteiligung auf den Schutz der Kinder angewiesen. In den pädagogischen Ausbildungen kommen Menschen- und Kinderrechtsbildung und die Vermittlung einer „Ethik pädagogischer Beziehungen“ bisher kaum vor. Hier besteht ein sehr großer Nachholbedarf.
 

Abgesehen von der inhaltlichen Vermittlung von Konzepten zur Beteiligung von Kindern im Kita-Alltag, welche Haltung benötigen angehende frühpädagogische Fachkräfte für eine kinderrechtsbasierte Arbeit?

Haltung entsteht an der Schnittstelle zwischen persönlichen, biografisch vermittelten Erfahrungen und professionellen Kenntnissen und Fertigkeiten. Eine kinderrechtsbasierte Haltung kann daher nicht „einfach“ gelehrt und gelernt werden. Aber es ist möglich, sie zu fördern. Dafür braucht es vor allem (Selbst-)Reflexionsräume, sowohl in den Ausbildungen als auch begleitend zur Praxis, zum Beispiel in Teamgesprächen und als Bestandteil von Fortbildungen. In besonders herausfordernden Situationen können außerdem Coaching und Supervision sinnvolle Angebote sein, über die Haltungen verändert werden können.
 

Wie können Eltern konkret an der Umsetzung von Kinderrechten und Partizipation in der Kita beteiligt werden? Was müssen Fachkräfte beachten, um auch Eltern partizipativ zu beteiligen? Wie können sich Eltern unabhängig davon für die Beteiligungsrechte ihrer Kinder in der Kita stark machen?

Um Eltern für die Rechte ihrer Kinder zu sensibilisieren und zu begeistern, ist zunächst einmal wichtig, die besondere Stellung der Eltern ihren Kindern gegenüber und die einzigartigen Fähigkeiten von Eltern zu erkennen und zu respektieren, wie dies in der Präambel und in den Artikeln 5 und 18 der UN-Kinderrechtskonvention dargelegt ist. Eltern liegt in aller Regel das Wohl ihres Kindes ganz besonders am Herzen und sie sind daher die natürlichen Verbündeten in punkto Kinderrechte. Weiterhin geht es darum, bei Eltern häufig vorhandene Missverständnisse gegenüber Kinderrechten zu vermeiden, zum Beispiel die Annahme, die Kinder könnten jetzt „alles“ selbst entscheiden und die Eltern hätten gar nichts mehr zu sagen. Wichtig ist auch, Eltern an praktischen Beispielen deutlich zu machen, dass Kinderrechte ihre Bemühungen unterstützen, die besten Interessen ihres Kindes (Kindeswohl) zur Geltung zu bringen. Da Kinderrechte in den Kitas häufig nicht ausreichend ernst genommen werden, sollten leicht zugängliche und wirksame Beschwerdemöglichkeiten vorhanden sein, die Eltern jederzeit nutzen können. Darüber hinaus stehen Eltern die in der Regel bereits bestehenden Einflussmöglichkeiten zur Verfügung, darunter die Mitwirkung beim Übergang des Kindes in die Kita (Eingewöhnung), Entwicklungsgespräche, Elternversammlungen und die Wahl von Elternvertretungen sowie die Möglichkeit von Hospitationen sowie Elternberatungs- und Elternbildungsangeboten.
 

Was ist hinsichtlich der partizipativen Gestaltung des Übergangs von der Kita zur Grundschule durch Eltern sowie Fach- und Lehrkräfte von besonderer Bedeutung? Was müssen die beteiligten Akteur*innen berücksichtigen? Welches gemeinsame Verständnis von Kinderrechten/Beteiligung von Kindern ist für eine gelungene Zusammenarbeit sinnvoll?

Nicht nur entsprechend der UN-Kinderrechtskonvention, sondern auch gemäß § 1626 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches sind Eltern in Deutschland schon seit vierzig Jahren verpflichtet, die „wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln“ zu berücksichtigen. Dies gilt selbstverständlich auch für die Beteiligung des Kindes an der Schulwahl und an der Gestaltung des Übergangs von der Kita in die Schule. Dabei ist Beteiligung kein Selbstzweck, sondern sie macht die getroffenen Entscheidungen sicherer und nachhaltiger. Je mehr die Kinder altersgerecht einbezogen werden, desto eher können sie sich mit der Entscheidung identifizieren und desto größer sind die Chancen für schulischen Erfolg. Bei der Zusammenarbeit mit den Eltern sollten die Fach- und Lehrkräfte berücksichtigen, dass sie das immense Wissen der Eltern über ihre Kinder einbeziehen und Respekt vor den Erziehungsvorstellungen und Wünschen der Eltern haben, es sei denn, die Eltern gefährden das Wohl ihres Kindes. Auf dieser Grundlage kann eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zum Wohl des Kindes gelingen.
 

Vielen Dank für das interessante Gespräch!