Dr. phil. Kathrin Aghamiri ist Diplom-Sozialpädagogin und hat die Professur für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und Schule an der Fachhochschule Münster inne. Zu ihren Arbeitsgebieten zählen Erziehung und Bildung, sozialpädagogisches Handeln in Schulen sowie die Partizipation von Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Institutionen. In einem ihrer Forschungsprojekte untersuchte sie die Partizipation von Kindern als Qualitätsmerkmal in Kindertageseinrichtungen. Wir sprachen mit ihr darüber, wie der partizipative Übergang von der Kita zur Grundschule gelingen kann.
Welche Herausforderungen stellen sich Kindern und Fachkräften beim Übergang von der (eher) partizipationsorientierten Kindertagesbetreuung zur (stärker) reglementierten Grundschule?
Eine sehr komplexe Frage, wie ich finde. Zunächst einmal können wir feststellen, dass jeder Übergang zwischen gesellschaftlichen Institutionen eine Herausforderung darstellt. Institutionen beinhalten jeweils bestimmte Erwartungsbündel an die einzelnen Menschen, die sich in den verfügbaren Rollen abbilden. Welche Rolle(n) nehme ich ein? Was darf ich z.B. in meiner neuen Rolle als Schüler*in tun, was darf ich nicht? Allgemein gesprochen besteht die Herausforderung darin, eine Balance zu finden zwischen den jeweiligen Handlungserwartungen, die eine bestimmte Rolle bereithält, und meinen persönlichen Vorerfahrungen. Dazu kommt, dass die verschiedenen Rollenangebote in Institutionen mit unterschiedlichen Machtquellen ausgestattet sind. In pädagogischen Institutionen verfügen die Erwachsenen grundsätzlich über mehr Macht als die Kinder.
Übertragen auf den Übergang von einer partizipationsorientierten Kita in die Grundschule bedeutet das, dass ein Kind, zu dessen Rollenerfahrung als Kita-Kind möglicherweise gehörte, dass es regelmäßig um seine Meinung gebeten wurde, in der Grundschule ganz andere Anforderungen erlebt: etwa in Bezug auf Ein- und Unterordnung, leibliche Disziplin oder Leistungsbereitschaft. Dazu passt ganz gut die Äußerung eines Erstklässlers ein halbes Jahr nach seiner Einschulung im Rahmen eines studentischen Forschungsprojekts. Deniz, sechs Jahre alt, sagt: „Da in der Schule isses nämlich so. Es ist nicht wichtig, was wir denken. Es ist ja wichtig, dass wir richtig lernen.“ Zugespitzt könnte man sagen: Die zumindest zeitweilig eingenommene Rolle als „Kita-Bürger*in“ wird abgelöst durch die Rolle als Schüler*in, der*die vor allem ein*e „gute*r Schüler*in“ sein soll. Die Herausforderung ist, mit den unterschiedlichen Rollen klar zu kommen und sie in die Vorstellung von sich selbst als Subjekt in einer Gesellschaft zu integrieren. Im schlimmsten Fall wird die Demokratieerfahrung in der Kita als weniger wichtig konstruiert, weil die Schule die gesellschaftlich wirkmächtigere Institution ist. Das Subjekt würde dann zum*zur Erfüller*in von Leistungsansprüchen degradiert. Für ein demokratisches Gemeinwesen bedeutet das meiner Ansicht nach nichts Gutes.
Wie kann an demokratische, partizipative Impulse bzw. Kompetenzen, die sich Kinder in der Kita aneignen konnten, in der Grundschule angeknüpft werden ohne zu verhallen? Worauf kommt es bei einer Kooperation von Kita und Grundschule an?
Um die Argumentation von oben wiederaufzunehmen: Soll der Übergang sensibel im Sinne von Demokratiebildung gestaltet werden, müsste in beiden Institutionen eine Art „Bürger*innen-Rolle“ für die Kinder möglich sein. Dafür käme es darauf an, sowohl in Kita als auch Grundschule verbindliche Rechte von Selbst- und Mitbestimmung der Kinder im Alltag zu verankern und im Dialog zu begleiten. Für die Kooperation bedeutet dies, dass sich die Fachkräfte aus beiden Einrichtungen zusammensetzen und zunächst ihr Verständnis von Partizipation klären. In den demokratiepädagogischen Diskursen beider Institutionen haben sich nämlich durchaus unterschiedliche Vorstellungen von „Beteiligung“ entwickelt. Als Sozialpädagogin bin ich der Ansicht, dass die Schule hier auch sehr viel von den Ideen und Ansätzen kindheitspädagogischer Demokratieerziehung lernen kann. Partizipation im sozialpädagogischen Diskurs hat etwas mit der Ermöglichung von Entscheidungen über Angelegenheiten, die mein Leben betreffen, zu tun.
Für die Kooperation ist es zentral, zu einer gemeinsamen Begriffsbestimmung zu gelangen, damit diese dann auch einen Orientierungspunkt für die pädagogische Arbeit bieten kann. Nachdem die Beteiligten wissen, wovon sie sprechen, sollten die einzelnen Teams verbindliche Mit- und Selbstbestimmungsrechte festlegen und sich überlegen, was die jeweiligen Kinder brauchen, um diese Rechte auch wahrzunehmen. Vielleicht ist es auch eine gute Idee, die Kinder aus der Kita, die ja schon einige Erfahrungen als Demokrat*innen gesammelt haben, einzubeziehen.
Welche Formen der Zusammenarbeit zwischen Kita und Grundschule zur Demokratiebildung gibt es bereits? Wie könnten diese ausgebaut werden bzw. welche Rahmenbedingungen werden dazu benötigt?
Einige Aspekte habe ich ja oben schon angedeutet. Zunächst geht es darum, sich offen auszutauschen. Das braucht Zeit und die Bereitschaft, sich als Partner*innen wahrzunehmen. Um diesen Austausch und die Diskussion um ein gemeinsames Verständnis von Partizipation voranzubringen, werden beispielsweise in den letzten Jahren verstärkt gemeinsame Fachtage organisiert. Hier gibt es oft eine größere Freiheit zu denken, als wenn das Ganze zwischen Tür und Angel im Alltag stattfinden soll. Hilfreich dabei ist ein abgestimmtes Vorgehen der Länder, Kommunen und freien Träger*innen, was den gemeinsamen Demokratiebildungsauftrag von Jugendhilfe und Schule angeht. Grundschulen und Kitas sollten in kommunalen Demokratienetzwerken zusammenarbeiten. Demokratie muss auch auf der politischen Ebene gewollt und gestaltet werden!
Vermehrt finden sich aber auch in der ganz konkreten Kooperation am Übergang Projektstandorte, die sich dem Thema Demokratiebildung als Schwerpunkt widmen. Ich begleite beispielsweise drei Kitas in Paderborn, die sich auch trägergestützt zu partizipativen Kitas entwickelt haben, und die mit der ortsansässigen Grundschule gemeinsame Partizipationsprojekte mit Beteiligung der Kinder am Übergang planen. Dazu eignen sich z.B. die Schulbesuche im letzten Kita-Jahr, die Arbeit mit Lerngeschichten, die Planung der Einschulungsfeier oder das gesamte letzte Kita-Jahr bzw. die Angebote für die zukünftigen „Schulkinder“. An gemeinsamen Projekten kann man auch gemeinsam am meisten lernen. Gemäß der pädagogischen Maßgabe von Pestalozzi: mit Kopf, Herz und Hand.
Erwachsene haben spezifische Vorstellungen und ein individuelles Wissen über Demokratie und Erziehung. Welche Rolle spielen eigene Demokratieerfahrungen von Lehrenden beim Übergang Kita-Grundschule?
Auch für diese Frage können wir auf den Einstieg in dieses Interview zurückkommen. Rollen, die wir einnehmen und Erfahrungen, die wir individuell machen, prägen unsere Vorstellung von uns selbst und von Gesellschaft. Selbstverständlich spielen eigene Demokratieerfahrungen eine sehr große Rolle in unseren Alltagstheorien von einem demokratischen Zusammenleben. Ob ich als Fachkraft einem jungen Menschen von fünf oder acht Jahren beispielsweise zutraue, wichtige Entscheidungen zur Gestaltung von Kita oder Grundschule (mit) zu bestimmen, hängt zum einen davon ab, wie Kinder in einer Gesellschaft gesehen werden und zum anderen davon, wo und wie ich selbst Demokrat*in geworden bin. Pädagogik muss immer umgehen mit tradierten Erfahrungen und neuen gesellschaftlichen Anforderungen an die einzelnen (zukünftigen) Mitglieder dieser Gesellschaft.
Wenn Kinder also als zu unvernünftig, zu hedonistisch, zu jung konstruiert werden, um in Entscheidungen einbezogen zu werden und wenn ich es selbst nie erlebt habe, wie das sehr wohl funktionieren kann – egal ob als Kind oder als Fachkraft – werde ich Partizipation auch eher skeptisch gegenüberstehen. Dazu kommt, dass Kinder vielleicht besondere Worte, eigensinnige Vorstellungen und Formen über und von einem gemeinsam gestalteten Alltag haben oder erfinden. Das wahrzunehmen fällt Erwachsenen manchmal schwer, wenn sie nach etablierten Formen von Demokratie, wie sie sie kennengelernt haben, suchen.
Erwachsene sind oftmals selbst Lernende in Sachen demokratischer Erziehung. Es kommt darauf an, die Einrichtungen insgesamt demokratischer zu machen. Viele Erwachsene müssten also umlernen, d.h. ihre im Laufe des Lebens entstandenen Überzeugungen in Frage stellen und sich auf neue Erfahrungen einlassen. Dafür eignen sich besonders gut Partizipationsprojekte. In Projekten kann man zeitlich und räumlich begrenzt entspannter neue Lernerfahrungen zulassen. So können sich sowohl Kinder als auch Erwachsene noch unbekanntes Wissen über Demokratie im pädagogischen Verhältnis aneignen.
Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit der Teilhabe und Partizipation von geflüchteten Kindern in Kita und Grundschule. Wie sehen die Teilhabechancen von geflüchteten Kindern im Elementar- und Primarbereich aus? Gibt es hier noch Hindernisse zu überwinden?
Eine partizipative Pädagogik ist eine Riesenchance – gerade für geflüchtete Kinder. Um die Teilhabechancen von geflüchteten Kindern steht es teilweise sehr schlecht. Sie haben z.T. einen ungesicherten Aufenthaltsstatus und nicht selten die Erfahrung gemacht, aus ihren bekannten Bezügen herausgerissen worden zu sein. Flucht ist eine große Unsicherheitserfahrung: Ich bin vielen Situationen ausgesetzt, die ich nicht verstehe und nicht beeinflussen kann. Partizipation in Kita und Grundschule kann die große Unsicherheit nicht aufheben, aber im Kleinen durchaus Selbstwirksamkeitserleben ermöglichen: Hier kann ich verstehen, worum es geht, kann Situationen durch mein Handeln verändern und erzeuge damit etwas Gutes für mich und/oder alle anderen aus der Kita-Gruppe oder Klasse.
Wichtig ist, dass Partizipationsthemen von den Fachkräften so vermittelt werden, dass alle Kinder – auch die geflüchteten – verstehen, worum es geht. Um mitbestimmen zu können, brauchen wir alle zunächst Informationen. Es muss ein Meinungsbildungsprozess stattfinden. Und dieser Prozess sollte sich generell danach ausrichten, was die jeweiligen Kinder brauchen, um das Thema zu verstehen, um abzuwägen, um Lösungen zu entwickeln. Die begleitenden Fachkräfte sollten sich also viele Gedanken machen, was die Kinder, mit denen sie es zu tun haben, bereits wissen und auf welche Erfahrungen sie zurückgreifen können. In einem Projekt von mir gab es z.B. die Situation, dass ein Sommerfest geplant werden sollte. Die Grundschulklasse wollte verschiedene Spielestationen organisieren. Ein Junge dieser Klasse kannte diese Spiele aber gar nicht. Also wurden zunächst viele der Vorschläge noch einmal an- oder durchgespielt und dann aufgemalt, so dass auch er informiert mitentscheiden konnte. Wie sich herausstellte, war das auch für andere Kinder gut, die sich nur entlang des Namens nicht mehr an das jeweilige Spiel erinnern konnten. Das „Wie“ der Partizipation muss von den Fachkräften gestaltet werden – egal, wen sie da vor sich haben. Die Frage ist nicht, was brauche ich speziell für geflüchtete Kinder. Die Frage ist, was brauchen die jeweiligen Kinder, damit sie mitentscheiden können.
Wenn sich Erwachsene auf solche Prozesse einlassen, können sie selbst unglaublich überraschende Erfahrungen damit machen, was junge Kinder alles können, wie einfühlsam sie sind, wie gerecht. Partizipation ist ein pädagogisches Herzstück.