Stimmen aus der Wissenschaft: Prof. Dr. Iris Ruppin

Dr. Iris Ruppin ist Diplom-Soziologin und hält die Professur für Handlungsfelder und Methoden der Kindheit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (htw saar). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Professionalisierung, Politische Bildung in Kindertagesstätten, Diversity/Vielfalt sowie Kindheitsforschung. Wir sprachen mit ihr über ihr Forschungsprojekt "Kinder und Demokratie".


Für das Forschungsprojekt „Kinder und Demokratie“ haben Sie Kinder im Alter von 5 bis 6 Jahren befragt. Können Sie kurz erläutern, worum es bei diesem Forschungsvorhaben ging?

Wir haben mit unserem Forschungsprojekt an Studien angeknüpft, die das politische Wissen und die Einstellungen von Kindern am Anfang der Grundschulzeit untersucht haben. In dem von der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes im Zeitraum von 2016 bis 2017 geförderten Forschungsprojekt „Kinder und Demokratie“ wurden in einer qualitativen Explorationsstudie Einstellungen und Wissen von 5-6-jährigen Kindergartenkindern zu Freiheit, Solidarität, Partizipation und generell zu ihrer Akteurschaft in Kindestageseinrichtungen und ihre Sicht auf die Lebenswelt untersucht. Hierzu wurden in zehn Kitas 54 Kinder befragt und die Interviews nach der Dokumentarischen Methode ausgewertet. Vor dem Hintergrund der Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen ist es ebenso wichtig die Perspektive der Kinder zu erforschen. Krappmann weist darauf hin, dass die Perspektive der Kinder diejenige der Erwachsenen mit ihren Ansprüchen und Anliegen ergänzen, aber auch herausfordern kann, da Kinder über eine eigene Weltsicht verfügen. Kinder werden in der Regel in den Bildungsprogrammen als Akteure betrachtet, gleichzeitig werden Demokratie und Partizipation von Kindern als zentrale Momente des pädagogischen Alltags begriffen. Im Sinne von John Dewey kann man also davon ausgehen, dass die Demokratie von Kindern als Lebensform erlebt und gelernt werden muss, um von Bedeutung für das gegenwärtige und zukünftige Leben zu sein. In diesem Sinne ist auch die UN-Kinderechtskonvention, die Selbstbestimmung und Mitbestimmung rechtlich für Kindertagesseinrichtungen fixiert, zentral, da das Setting der Einrichtungen besonders durch die generationale Ordnung und die Macht der pädagogischen Fachkräfte gekennzeichnet ist.

 

Was sind die zentralen Erkenntnisse des Forschungsvorhabens?

Im Rahmen der Studie konnten drei sinngenetische Typen identifiziert werden. Typ 1: Das „komplizenhafte“ Kind, das an Werten und Normen der Institutionen, der Gesellschaft sowie an Autoritäten orientiert ist. Typ 2: Das auf lebensweltliche Freiheitsräume fokussierte/hedonistische/an Spaß und Spiel orientierte Kind. Typ 3: Das „de-konstruktivistische“ Kind, das Werte und Normen der Institution und Gesellschaft sowie Hierarchien in Frage stellt und als einschränkend empfindet. Dabei stellt sich die Mitbestimmung und Selbstbestimmung und ihre Bewertung und Stellenwert für die einzelnen Typen sehr unterschiedlich dar.

Aus der Perspektive von Typ 1 formulieren und bestimmen entweder die pädagogischen Fachkräfte oder die Leitung die Regeln der Kita. Die eigenen Freiräume im Spiel werden aufgezeigt, generell wird die generationale Ordnung und die Macht der pädagogischen Fachkräfte über den Alltag und die Freiräume der Kinder von diesen Kindern in der Regel nicht in Frage gestellt. Kinder vom Typ 2 sind ganz auf Spiel, Freunde, Familie fixiert und nehmen Regeln sowie die Macht der Autoritäten als Normalität wahr, zentral sind die Orte und Aktivitäten, in denen das Handeln selbstbestimmt und selbstwirksam sein kann, in welchen Kindern autonom agieren können. Momente bzw. Angebote, die die Selbstbestimmung einschränken, werden im Ansatz kritisch gesehen. Stärker wird die Einschränkung der Selbstwirksamkeit und Partizipation von Typ 3 wahrgenommen und erlebt. Es werden Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Freiheiten gesucht, die die Übertretung und Verletzung von Regeln (mit)einschließt. Das Freispiel wird als der markante Moment des pädagogischen Alltags benannt; in diesem Kontext gilt das Außengelände als besonders attraktiv, da es Freiräume und Freiheiten bietet, die daraus resultieren, dass sich das einzelne Kind nicht in der unmittelbaren Nähe der pädagogischen Fachkräfte befindet. Innenräume hingegen sind eher Regeln unterworfen, die von den pädagogischen Fachkräften – aus der Sicht der Kinder – bestimmt und kontrolliert werden. Generell werden individuelle Bedürfnisse, persönliche Rechte, Individualität eingefordert. Allgemein wird die hierarchische Erwachsenen-Kind-Beziehung kritisiert und eine (umfassende) Mitbestimmung eingefordert.

 

Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Umsetzung von Beteiligung in der Kindertagesbetreuung ziehen? Ist Partizipation nur etwas für den dekonstruktivistischen (Kinder-)Typ?

Interessant sind in diesem Kontext die Aussagen von Bühler-Niederberger, Gräsel und Morgenroth, die von der „Akteurschaft der Kinder vor allem als kompetente Gefügigkeit“ sprechen, da Kinder die Regeln des institutionellen Settings konstruieren und entsprechend den Erwartungen der Erwachsenen handeln. Typ 1 und Typ 2 können als „komplizenhaft“ begriffen werden, die zwar das pädagogische Setting als fremdbestimmt kennzeichnen, jedoch die Autorität der pädagogischen Fachkräfte und die Regeln nicht in Frage stellen. Das impliziert, dass die in der Kindertagesseinrichtung gelebten Werte und Normen akzeptiert und internalisiert werden. Kinder vom Typ 1 oder Typ 2 formulieren Vorstellungen von Gesellschaft, von der Verpflichtung des Einzelnen in der Gesellschaft, sowie von der Bedeutung der Werte und Normen für das Zusammenleben. Die Anerkennung der Macht der pädagogischen Fachkräfte ist verknüpft mit der Anerkennung der Beziehung, der Anerkennung der Kinder als Akteure. Dies basiert nach Bühler-Niederberger auf dem Arrangement der Komplizenschaft. Im Gegensatz dazu kann Typ 3 als Subjekt begriffen werden, das die gefügige Komplizenschaft im pädagogischen Setting aufkündigt und die durch Erwachsene bestimmte Ordnung als nicht akzeptierbar entlarvt. Erkennbar wird hier ein (naives) Wissen über Kinderrechte, das die Berücksichtigung des Kindeswillens impliziert, wobei Kinder das Recht haben, ihre „Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern“ (Artikel 12 UN-KRK). Die Macht, das Wissen der Erwachsenen wird in Frage gestellt und eigene Möglichkeiten der Mitbestimmung und damit der Partizipation werden eingefordert. Insgesamt kann festgestellt werden, dass in Kindertageseinrichtungen die Freiheit, das Spiel und den Ort des (Spiel)Aufenthaltes selbst bestimmen zu können, begrenzt ist, bzw. diese Randbedingungen von pädagogischen Fachkräften vorgegeben werden. Dieses führt bei Kindern vom Typ 3, die den Kindergarten als weitgehend fremdbestimmt ablehnen, zur Aufkündigung der Komplizenschaft, damit einhergehend auch zur Verweigerung des Mitspielens und der Einhaltung der Regeln. Generell kann formuliert werden, dass die Möglichkeiten der Mitbestimmung aus der Perspektive der Kinder so gering ausfallen, das Typ 1 und Typ 2 die Macht, die Fremdbestimmung und die geringen Mitbestimmungsmöglichkeiten akzeptieren. Das heißt, insgesamt muss das pädagogische Setting und die Beziehungen der Kinder und pädagogischen Fachkräfte so verändert werden, dass nicht nur Typ 3 das Recht auf Selbst- und Mitbestimmung einfordert die sowohl in der UN-Kinderrechtskonvention wie auch im § 45 SGB VIII im Bundeskinderschutzgesetz verankert ist.

 

Wie waren die Reaktion aus der Praxis, insbesondere aus den beforschten Einrichtungen, auf Ihre Forschungsergebnisse?

Hier kann ich nur nochmals auf Krappmann verweisen, dass die Perspektive der pädagogischen Fachkräfte durch die Perspektive der Kinder herausgefordert wird. Partizipation scheint aus der Perspektive der pädagogischen Fachkräfte in der Regel bereits in Kitas umgesetzt zu werden, aus der Perspektive der Kinder ist dieses nicht der Fall. Das heißt, die generationale Ordnung und die Macht der pädagogischen Fachkräfte müssen in der Praxis reflektiert werden. Die Bedeutung von Partizipation für das Wohlbefinden wird auch in der Studie von Nentwig-Gesemeann, Walther und Thedinga deutlich. Generell kann aber darüberhinausgehend formuliert werden, dass das Erleben und Erlernen von Demokratie in Kindertageseinrichtungen ein bedeutsames Moment der politischen Sozialisation und der politisch-demokratischen Bildung beinhaltet.

 

Vielen Dank für das interessante Gespräch!

©Iris Ruppin