Stimmen aus der Wissenschaft: Prof. Dr. Johanna Mierendorff und Dipl.-Päd. Gesine Nebe

Dr. Johanna Mierendorff ist Professorin für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt „Pädagogik der frühen Kindheit“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dipl.-Päd. Gesine Nebe lehrt und forscht seit 2010 an der Universität Halle-Wittenberg, u. a. im Bereich Übergang Kita-Schule sowie Segregation und Ungleichheit. Seit 2019 leiten Prof. Dr. Johanna Mierendorff und Gesine Nebe ein BMBF-gefördertes Forschungsprojekt zum Thema Kita-Segregation.
 

Deutschland ist ein von Vielfalt geprägtes Land: Etwa 1/3 der Kinder im Vorschulalter hat einen Migrationshintergrund. Man sollte meinen, dass sich diese Vielfalt auch in der Kindertagesbetreuung widerspiegelt. Dennoch belegen Studien, dass Kinder mit einem sog. Migrationshintergrund oder aus sozial benachteiligten Familien häufig andere Kitas besuchen als Kinder aus privilegierten Familien. Was sind die Gründe dafür?

Genau an dieser Frage setzt unser Projekt an; es gibt nämlich bislang keine Forschung, die dafür befriedigende Erklärungen liefert.

Nichtsdestotrotz haben wir natürlich einige wichtige Hinweise auf die in Frage kommenden Gründe: Zum einen wäre da die residentielle Segregation – in Städten und ländlichen Räumen haben sich historisch unterschiedliche Wohnbezirke herausgebildet. Die Zusammensetzung der Bevölkerung unterscheidet sich dort mitunter stark. Hierbei handelt es sich zum einen um historisch gewachsene Strukturen; die wachsenden Städte haben sich in Arbeiterviertel, Villenviertel, Handwerkerviertel, Industrieviertel, etc. entwickelt. Es gibt demnach traditionell Wohngebiete, in denen die Bevölkerungsstruktur jeweils tendenziell sozial homogen ist und es gibt solche, die bezüglich Herkunft, sozialem Status oder Religion ihrer Bewohner eher gemischt sind. Interessant ist nun, dass sich in gemischten Quartieren diese Durchmischung nicht automatisch in den Kitas abbildet, sondern die Klientel in den Kitas wiederum eher homogen ist. Wir wissen aber auch, dass sich in homogenen Quartieren dagegen die Bevölkerungsstruktur durchaus in den Kindertageseinrichtungen widerspiegelt und dort kaum Kinder jeweils anderer Milieus bspw. aus Nachbarquartieren sind.

Es ist darum davon auszugehen, dass die Gründe für die Entmischung in den Kitas auf mehreren Ebenen liegen und diese nicht allein vom Einzugsgebiet der Kita abhängt. Viele Dinge kommen zusammen und führen dazu, dass sich in den Kitas häufig eine je homogene Klientel findet. So beobachten wir etwa, dass die elterliche Suche nach und Entscheidung für einen Betreuungsplatz für ihr Kind durchaus selektiv ist – und segregierend wirkt. Gleichermaßen wählen die Träger einer Einrichtung bzw. die Einrichtungsleitungen „ihre“ Kinder i.d.R. aus einer Vielzahl von Anmeldungen aus. Anders als dies für die Schule der Fall ist, wird die Einrichtung nämlich nicht nach Wohnbezirken zugeordnet. Es ist davon auszugehen, dass das Agieren der Träger bzw. Einrichtungsvertreter bei der Platzvergabe ebenfalls segregationsrelevant wirkt. Wir haben es insgesamt mit einen höchst komplexen Prozess zu tun – wir fassen diesen im Projekt als Platzvergabeprozess. In diesem greifen unterschiedlichste Intentionen von Trägern, Einrichtungen, Verwaltungen, Eltern oder der Politik sowie administrative Strukturen und Eigenlogiken von Handlungsabläufen ineinander und wirken – und das ist unsere Hauptthese – in ihrer Gesamtheit segregierend.

 

Welche Auswirkungen hat die Kita-Segregation auf die Entwicklung von Kindern?

Zu den Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern können wir aus dem Projekt heraus keine Aussage treffen. Allerdings besteht der berechtigte gesellschaftliche Anspruch, Kindern in Kindertageseinrichtungen die Möglichkeit zu geben, im alltäglichen freundschaftlichen Miteinander Kinder kennenzulernen – und gemeinsam mit ihnen aufzuwachsen –, die bspw. eine andere Ethnie als die eigene haben, einer anderen Religion als der eigenen angehören oder deren Familie einen anderen sozialen Status hat als die eigene Familie. Im Grunde geht es in der Demokratie doch auch gerade darum, dass wir einander in unserer Verschiedenheit achten und respektieren. Die Kindertagesstätte kann und sollte Zeit, Raum und Gelegenheit bieten, diese Vielfalt wirklich zu erleben und kennenzulernen. In segregierten Kitas ist dies eben gerade nicht möglich und wir vergeben – wenn Sie so wollen – hier eine wichtige Chance.

 

Ihr aktuelles Forschungsprojekt in Kooperation mit der Universität Münster untersucht den Zusammenhang zwischen Trägerstrukturen und der sozialen und ethnischen Entmischung in Kitas. Welchen konkreten Fragen geht das Projekt auf den Grund?

Zunächst einmal ist es unser Anliegen, Segregation in Kindertageseinrichtungen in ihrem genauen Ausmaß zu beschreiben und zu analysieren. Von besonderem Interesse ist für uns, welchen Zusammenhang es zwischen der Trägervielfalt und der Segregation in den Einrichtungen gibt. Das Teilprojekt SET:ID (Wilhelms-Universität Münster, Leitung: Prof. Dr. Nina Hogrebe) untersucht dies aus strukturanalytischer Makroperspektive mittels statistischer Daten (NEPS, SOEP). Wir in Halle nehmen parallel dazu spezifische Auswahlverfahren und Handlungspraktiken ausgewählter Träger in Bezug auf ihren Umgang mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den Blick, um damit zusammenhängende Ein- und Ausschließungstendenzen zu identifizieren. Außerdem interessieren wir uns besonders für die Rolle von kommunalen Planungs- und Steuerungsstrukturen, da davon auszugehen ist, dass diese das Handeln aller Beteiligten bedingen und präformieren. Inwiefern diese Strukturen Segregation bzw. segregationsrelevantes Agieren der unterschiedlichsten in den Platzvergabeprozess einbezogenen Akteure und besonders der Kita-Betreiber befördern oder begünstigen, ist eine wichtige Frage, der wir auf den Grund gehen werden.

 

Wie kann das Ausmaß der Kita-Segregation verringert werden und welchen Beitrag können Träger und Politik dazu leisten?

Die Kitalandschaft ist derzeit quasi-marktwirtschaftlich strukturiert; und die Betreiber von Kindertageseinrichtungen müssen sich in den gegebenen Strukturen als verantwortliche Akteure verhalten. D.h. aus der Logik einer betriebswirtschaftlich agierenden Organisation ist es deren Ziel, für die Auslastung der Einrichtung zu sorgen und das unternehmerische Risiko zu minimieren. Für sie ist es daher durchaus entscheidend, welche Kinder bzw. welche Familien Mitglieder ihrer Organisation sind/werden. Dass Kindertageseinrichtungen daher – auch im Rahmen der Trägerautonomie – ‚ihre‘ Kinder so auswählen, dass sie zu ihren Vorstellungen passen, ist plausibel. Aber gerade ein solches Auswählen von Eltern/Familien seitens der Träger ist segregationsrelevant.

Um dem zu begegnen, wäre etwa eine generelle Platzzuweisung – bspw. per Zufallsprinzip durch Losverfahren o.ä. – eine durchaus interessante Maßnahme. Allerdings ist gerade eine solche Platzzuweisung unrealistisch, und zwar, weil dies die gesellschaftlich gewollten und gesetzlich geschützten Prinzipien der Trägerhoheit (und damit Subsidiarität) sowie das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern antasten würde. Wir sind aber davon überzeugt, dass es durchaus möglich ist, Strukturen zu schaffen, die Segregation grundlegend entgegenwirken. Darüber nachzudenken ist auch Ziel unseres Projektes. In jedem Falle befördern die aktuell existierenden Strukturen den jetzigen Zustand. Nach unserem aktuellen Kenntnisstand gibt es dafür derzeit noch kein Bewusstsein bzw. auf politischer Ebene keine Diskussionen, die über eine tendenzielle Schuldzuweisung an die Eltern oder an die Träger hinausgehen würde. Wir hoffen, mit den Projekterkenntnissen auf dieses aus den Strukturen des Systems sich ergebende Problem aufmerksam machen zu können. Und wir möchten langfristig gemeinsam mit Verantwortlichen – wenn dies gewollt ist – nach Lösungen suchen.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

Porträt von Johanna Mierendorff
©Uni Halle/Michael Deutsch
Porträt von Gesine Nebe
©Fotoatelier Wege, Halle (Saale)