Stimmen aus der Wissenschaft: Prof.in Dr. Heike Radvan

Dr. Heike Radvan ist Professorin für Soziale Arbeit an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Zuvor war sie viele Jahre für die Amadeu-Antonio-Stiftung tätig und hat dort die Fachstelle „Gender und Rechtsextremismus“ aufgebaut und geleitet. Zu Heike Radvans Forschungsschwerpunkten zählen: (geschlechterreflektierende) Rechtsextremismusprävention, pädagogisches Handeln und Antisemitismus sowie Diversität in ländlichen Räumen der neuen Bundesländer. Seit Herbst 2017 ist sie Mitglied im Beirat des Kooperationsprojekts "Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung".

Wir wollten von Frau Prof.in Dr. Radvan wissen, warum sie sich für Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung einsetzt.


Was bedeutet Demokratie in der Kindertagesbetreuung für Sie? Wieso sollte Demokratiebildung bereits im frühpädagogischen Bereich beginnen?

Demokratie ist nichts, was einfach so entsteht, weder gesellschaftlich noch individuell. Bei Menschen, die verlässlich demokratisch handeln, spreche ich von einer Haltung. Diese erlernt man nicht einfach so im Unterricht oder durch Auswendig-Lernen. Es ist ein längerfristiger Lern- bzw. Bildungsprozess, der sich auch körperlich – habituell – einschreibt. Hat sich eine Haltung etabliert, handele ich selbstverständlich, z.B. ohne lange nachzudenken. Es macht – u. a. aufgrund der Langfristigkeit und Nachhaltigkeit dieses Bildungsprozesses – in jedem Falle Sinn, bereits kleinen Kindern die Chance zu geben, eine entsprechende Haltung auszuprägen. Das kann bedeuten, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihren Alltag in der Kita selbstwirksam mitzugestalten, sie also soweit wie möglich in Entscheidungen verantwortlich einzubinden. Gleichzeitig bedeutet es, Kindern zu zeigen, dass gleiche Chancen für alle unabdingbar sind, und zu verstehen, dass dabei nicht alle die gleichen Startbedingungen haben – also ein Verständnis von Gerechtigkeit auszuprägen. Wichtig ist der Schutz vor Abwertung und Ausgrenzung. Diskriminierung ist kein akzeptabler Umgang; wichtig ist der Schutz Betroffener. Kinder sollten lernen, zu intervenieren und solidarisch zu sein. Dafür ist es wichtig, eine Haltung der Gleichwertigkeit aller zu leben, in der kein Kind weniger oder mehr wert ist als ein anderes. Wichtig ist zuzuhören, gut zu kommunizieren und Dinge auszuhandeln.
 

Eines Ihrer Hauptinteressengebiete ist die (geschlechterreflektierende) Rechtsextremismusprävention. Was versteckt sich dahinter? Und worin besteht die Verbindung zur Kindertagesbetreuung?

In einem Projekt der Amadeu-Antonio-Stiftung haben wir 2009 erstmals Erzieherinnen und Erzieher in Kitas beraten, die in Mecklenburg-Vorpommern mit Rechtsextremismus konfrontiert waren. Neonazis hatten an zwei Orten versucht, einen Kindergarten zu gründen. Darüber hinaus tauchte das Problem auf drei Ebenen auf und wir erarbeiteten hierfür ein Fortbildungsprogramm: (I.) Eltern waren rechtsextrem organisiert oder orientiert und brachten entsprechende Meinungen und Forderungen in die Elternarbeit ein, häufig waren hier Mütter sehr strategisch aktiv und wurden mit ihrer Ideologie übersehen und unterschätzt. (II.) Kinder handelten/äußerten sich abwertend und ausgrenzend gegenüber anderen Kindern und/oder zeichneten Symbole, die dem Rechtsextremismus zugeordnet werden. (III.) Erzieherinnen und Erzieher waren in rechtsextremen oder rechtspopulistischen Parteien und/oder Gruppierungen aktiv. Häufig erkannten Kolleginnen und Kollegen dies erst durch Medienberichte oder Informationen von außen.

Ein geschlechterreflektierender Blick ist bei der Arbeit gegen Rechtsextremismus grundlegend von Bedeutung; es gibt eine Vielzahl von Gründen hierfür. So werden z.B. Frauen mit ihren Rollen und Funktionen in Neonazi-Szenen häufig übersehen, da mit den Stereotypen einer Friedfertigkeit und einem Unpolitisch-Sein von Frauen nicht davon ausgegangen wird, dass sie entsprechend handeln. Es braucht also eine sensibilisierte Wahrnehmung, um dieses Engagement in Kitas zu erkennen – hier setzt unser Fortbildungsprogramm an. Zudem ist der Alltag in diesen Milieus oft geprägt von vereindeutigenden, starren Rollenvorstellungen von Mann und Frau; Kinder wachsen in diesen Milieus stark geschlechterhierarchisch auf – hier gilt es also präventiv anzusetzen.
 

Welche konkreten Erfahrungen haben Sie mit den Projektthemen in Ihrer (wissenschaftlichen bzw. Beratungs-) Praxis gemacht?

Zu allererst gibt es einen Bedarf, für die Wahrnehmung des Phänomens zu sensibilisieren. Teams sind oft verunsichert, warum ihnen nicht bereits früher aufgefallen ist, dass z.B. ein Kind in einer Neonazi-Familie aufwächst, Eltern sich entsprechend engagieren oder gar eine Kollegin oder ein Kollege sich feindselig gegenüber Geflüchteten äußert und entsprechend ehrenamtlich aktiv ist. Woran also erkenne ich extreme rechte Einstellungen und Haltungen? Ich weise immer wieder darauf hin, dass ein Wissen um Symbole und Kleidungsmarken rechtsextremer Gruppen nicht ausreicht. Die Ideologie zeigt sich zu allererst sprachlich. Was hier zugrunde liegt, ist eine Einstellung, die von einer Ungleichwertigkeit von Menschen ausgeht und Gruppen zwischen „Wir“ und „die Anderen“ unterscheidet sowie auf- und abwertet. Damit sind Kolleginnen und Kollegen herausgefordert, sich mit ihren eigenen Meinungen auseinanderzusetzen und zu klären, was denn konkret letztlich ein demokratisches Miteinander in der Kita ausmacht. Wo beginnt Rassismus, wie erkenne ich ihn und wie interveniere ich? Die Frage der Intervention macht dann in einem zweiten Schritt einen großen Bereich aus.
 

Was brauchen frühpädagogische Fachkräfte Ihrer Erfahrung nach, um im Umgang mit rechtsextremen und/oder rechtspopulistischen Äußerungen sicher(er) zu werden?

Hilfreich für eine sensibilisierte Wahrnehmung ist der hier angedeutete Prozess der Auseinandersetzung über das demokratische Miteinander im Kita-Alltag und ein Verständnis von Anti-Diskriminierung. Wir empfehlen das gemeinsame Entwickeln, also auch das konkrete Diskutieren und Ausformulieren eines demokratischen Leitbildes für die Einrichtung. Hier wird ausgehandelt, wann eine Aussage/Handlung z.B. antisemitisch, sexistisch oder rassistisch ist, wo genau welche Form der Diskriminierung beginnt und welcher Umgang damit sinnvoll ist. Das Leitbild hilft also auf den Ebenen der Haltung, Wahrnehmung und Intervention. Bei konkreten Problemen, wenn z.B. ein oder mehrere Eltern sich rechtspopulistisch oder rechtsextrem äußern, ist zu empfehlen, Expertinnen und Experten aus der Rechtsextremismusprävention hinzuzuziehen. Nicht zuletzt bei arbeitsrechtlichen Fragen – wenn eine Kollegin oder ein Kollege entsprechend aktiv ist –, hilft wiederum das konkret ausformulierte demokratische Leitbild und eine konflikterfahrene und positionierte Trägereinrichtung.
 

Was bzw. wie kann das Projekt „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ dazu beitragen, Fachkräfte im Umgang mit rechtsextremen und rechtspopulistischen Äußerungen zu stärken?

Häufig wird das Problem unterschätzt, übersehen oder in Abrede gestellt, dass es eine Relevanz sowie Berechtigung für die Arbeit gegen Rechtsextremismus in Kitas gibt. Das hilft uns – gerade angesichts eines gesellschaftlichen Rechtsrucks – nicht bzw. ist es gefährlich. Das Problem ist seit Längerem in der Kindertagesbetreuung angekommen; das zeigen nicht zuletzt die signifikant gestiegenen Anfragen an Fachberatungen und Expertinnen und Experten. Wir müssen darüber reden und sicherstellen, dass es fachlich-fundierte Antworten hierauf gibt. Hier kann und sollte das Projekt durch eine deutliche öffentlich hörbare Positionierung sehr viel erreichen. Das heißt auch, das Problem konkret zu benennen. Dies betrifft den Bereich der Aus- und Weiterbildung, mögliche Entwicklung von Materialien, Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzung und fachlichen Austausch, Beratungsangebote. Letztlich geht es auch um Sicherheit und Ansprache für Kolleginnen und Kollegen, die betroffen sind von Ausgrenzung und Diskriminierung sowie den Schutz für diejenigen Kinder und Familien, die von rechtspopulistischer und rechtsextremer Hetze und Ideologie ausgegrenzt und bedroht werden.


Herzlichen Dank für das Gespräch!

Schwarz-weiß Foto einer Frau vor dunkelgrauem Hiintergrund. Sie hat kurze dunkle Haare. Sie lächelt und trägt eine schwarze Jacke unter der ein heller Blusenkragen hervorschaut.
©Heike Radvan