Stimmen aus der Praxis: Olenka Bordo Benavides

Olenka Bordo Benavides (RAA Berlin) ist Pädagogin, Sozialwissenschaftlerin und Autorin. Sie leitet die Anlauf- und Fachstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen und Kitas Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin. Zudem ist sie im Vorstand von QUEERFORMAT Fachstelle Queere Bildung, Teil des Kollektivs SVK – Selbstverteidigungskurs mit Worten sowie Colectivo Qellcay – Dekoloniale Praxis. Sie ist ebenso als externe Evaluatorin zum Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege tätig. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Bildung, Dekolonialität, Diskriminierungs- und Rassismuskritik, Empowerment, Kindeswohl, Sorgearbeit und Transnationalität.

 

Studien wie die des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors zu Institutionellem Rassismus in der Kindertagesbetreuung zeigen, dass Kinder mit Migrationshintergrund in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung in Deutschland nach wie vor unterrepräsentiert sind. Welche Mechanismen sind für diese ungleiche Verteilung verantwortlich?

Zunächst sollte hier zwischen den Begriffen „Migrationshintergrund“ und „Rassismuserfahrung“ unterschieden werden. Migrationshintergrund bezieht sich auf die Migrationsgeschichte, auch der Familie und ggfs. auf Staatsangehörigkeit, während Rassismus auf historische Kontinuitäten, Homogenisierung, Dehumanisierung und vorurteilsbehaftetes Wissen hinweist und rassistische Denkweisen impliziert. Auch KiTa-Kinder ohne Migrationshintergrund und mit deutscher Staatsangehörigkeit machen Rassismuserfahrungen, wie sich beispielsweise bei Kindern aus den Sinti- und Roma-Communities zeigt.

In Bezug auf soziale Ungleichheiten im Bildungssystem spielen mehrere Faktoren eine Rolle, u.a. institutionelle Strukturen wie der Mangel an Problembewusstsein und Commitment sowie fehlende Verantwortungsübernahme, die oft mit der Verharmlosung oder gar Leugnung von Rassismus einhergehen. Hinzu kommen fehlendes Fachwissen und mangelnde Professionalisierung bei Trägerschaften, Leitungen und Teams, ohne entsprechende Verpflichtungen, diese anzugehen. Diese Notwendigkeit zeigt sich, wenn der Umgang damit aus allgemeinem Wissen oder pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet wird. Diskriminierungskritik wird so als beliebige Kompetenz betrachtet.

Hinzu kommt, dass die KiTa-Fachkräfte die Pluralität unserer Gesellschaft kaum widerspiegeln, während die Kindergruppen meist heterogen sind. Ein weiterer Aspekt ist die defizitäre Betrachtung von Erst- und Familiensprachen der Kinder, die mit einer Hierarchisierung von Sprachen einhergeht. Dies trifft sowohl auf Einrichtungen zu, die sich diversitätsorientiert begleiten lassen, als auch auf solche, denen es an einer diskriminierungskritischen Professionalisierung fehlt. Dabei fällt auf, dass die meisten zunächst keine diskriminierende Haltung bei sich selbst wahrnehmen. Zugleich berichten Fachkräfte, dass sie bei einer selbstkritischen Reflexion erkennen, dass solche Internalisierungen sowohl individuell als auch im Team und in der Einrichtung fest verankert sind.

Alle diese Faktoren haben Einfluss auf die Wahrnehmung und Interaktionen in KiTas und langfristige Auswirkungen auf Identitätsbildungsprozesse, Lebensrealitäten und Bildungswege junger Menschen. Auch deshalb sind die Auswirkungen von Diskriminierung vorrangig zu betrachten, nicht die Absicht.

 

Sie leiten die Anlauf- und Fachstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen und Kitas. Können Sie von Fällen berichten, bei denen diskriminierende Zugangshürden und Auswahlmechanismen im Kontext KiTa an Sie herangetragen wurden? Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es für Betroffene?

Uns wird sehr oft berichtet, dass diese Ausschlüsse sowohl subtil als auch direkt vorgenommen werden. Während mündliche Begründungen wie "Wir nehmen solche Familien nicht auf, die bringen nur Probleme" eindeutig diskriminierend sind, beziehen sich schriftliche Absagen oft auf formelle Aspekte. In den Antworten wird dann angegeben, dass es keine freien KiTa-Plätze gibt oder dass die Gruppen für das Alter des Kindes bereits voll seien, obwohl in Wirklichkeit Kapazitäten vorhanden sind. Wir hatten auch Fälle, in denen Familien aus bestimmten Communities markiert wurden und es in den Einrichtungen die Anweisung gab, diese nicht auf die Warteliste zu setzen. Auch erhalten wir Anfragen von Eltern und von Fachkräften der Einrichtungen, die nach Handlungsstrategien und Unterstützung fragen. Oft möchten sie aus Angst um ihre KiTa-Plätze oder Stellen anonym bleiben. Familien nehmen sogar in Kauf, in den Einrichtungen zu bleiben, da ihnen die dortigen Prozesse bekannt sind und ihre Kinder bereits Beziehungen aufgebaut haben. Generell erhalten wir Anfragen aus dem deutschsprachigen Raum, was für uns deutlich darauf hinweist, dass ein großer Bedarf an diskriminierungskritischen Praxen sowie an entsprechenden Anlauf- und Beratungsstellen mit Expertise in der frühkindlichen Bildung besteht.
Zur Unterstützung von Diskriminierungserfahrenen empfehlen wir, den Fokus auf das Wohl und die Perspektive des Kindes zu legen und es zu stärken. Diese Unterstützung kann beispielsweise durch die Anerkennung der Gefühle, Emotionen und Erfahrungen geschehen, indem sie achtsam und empathisch aufgenommen werden. Auch stärkende Medien, unterstützende Communities, Entlastungsgespräche und die Inanspruchnahme von Beratung bei einschlägigen Beratungsstellen können hierbei hilfreich sein. Die Beratungsstellen können bei Bedarf auch dabei helfen, Gedächtnisprotokolle zu erstellen oder Unterstützung und Begleitung für weitere Schritte in der KiTa zu erhalten. Das Ziel ist es, Schutz sowie mentale und emotionale Entlastung anzubieten.

 

Welche Maßnahmen können innerhalb einer KiTa getroffen werden, um diesen diskriminierenden Ausschlussprozessen entgegenzuwirken?

Wir empfehlen Einrichtungen, sich diskriminierungskritisch zu professionalisieren. Es geht um einen Prozess, bei dem die Haltung auf den Kinder- und Menschenrechten basiert und die Bedürfnisse und Lebensrealitäten von Kindern und ihren Familien leitend sind. Die Einbindung erfahrener Expertise ermöglicht es Fach- und Leitungskräften ihre Verantwortung kompetent wahrzunehmen und bei der Aufklärung von diskriminierenden Vorfällen zu unterstützen. Bedeutend sind auch angemessene Konsequenzen für diskriminierende Handlungen, was leider sehr oft nicht stattfindet. So können Schritte und Strategien formuliert werden, um einen angemessenen Umgang mit diskriminierenden Situationen sicherzustellen. Dadurch wird eine deutliche Haltung und Positionierung erkennbar, die jegliche Form von Gewalt ablehnt und aktiv gegen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus vorgeht, während sie sich gleichzeitig für Vielfalt einsetzt.

Zwar gibt es keinen vollständige Maßnahmenkatalog, aber verschiedene Schritte, die einen sensiblen Umgang unterstützen. Dazu gehören zum Beispiel die Förderung einer offenen Kommunikationskultur, in der Kinder, Eltern- bzw. Bezugspersonen und Fachkräfte ermutigt werden, auf Ungleichbehandlungen aufmerksam zu machen und gemeinsam konstruktive Lösungsansätze erarbeitet werden. Aber auch die Entwicklung von Leitbildern, die ein inklusives Umfeld fördern und Diskriminierung entgegenwirken, sowie die Schaffung eines respektvollen und empathischen Umfelds für Kinder, ihre Familien und Fachkräfte durch eine klare Haltung, die vielfältige Identitäten und Lebensrealitäten berücksichtigt. Dabei basiert die Zusammenarbeit im Team und mit den Familien auf einem solidarischen Miteinander, bei dem die Perspektiven des Kindes und das Kindeswohl im Zentrum stehen. Nicht zuletzt sind regelmäßige Schulungen und Fortbildungen mit Fokus auf Diversität, Empowerment und der Abwendung von Diskriminierung Voraussetzung für eine nachhaltige Professionalisierung und Sensibilisierung. Auch das kritische Hinterfragen eigener Wissensquellen, Normen und Internalisierungen sowie eine diversitätssensible Lernumgebung mit Materialien, die die Vielfalt von Familien widerspiegeln sind wichtig.

 

Inwiefern hat der aktuelle Fachkräfte- und Kitaplatzmangel Einfluss auf die Situation?

Durch den Fachkräfte- und Kitaplatzmangel erleben wir, dass die Argumentation oft vor einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Thema Diskriminierungsschutz abgebrochen wird. Dann fallen Sätze wie „Das auch noch, wie sollen wir das schaffen?" oder „Das Thema bringt nur Probleme." Aus einer diskriminierungskritischen Perspektive auf Bildung wissen wir, dass damit Fronten eher verschärft werden und Verunsicherung für alle Beteiligten entsteht.
Wir erleben immer wieder, dass eine andere Atmosphäre entsteht, wenn sich das Team, unterstützt von Trägerschaft und Leitung, ernsthaft mit der Thematik auseinandersetzt und angemessene Handlungsstrategien verfolgt. Widerständige Rückmeldungen können zwar ein Zeichen von Verunsicherung sein, existieren jedoch nicht erst seit dem aktuellen Fachkräfte- und Kitaplatzmangel, sondern bestehen seit Jahrzehnten. Das ist, um ehrlich zu sein, sehr frustrierend und wird auf Kosten der Kinder, ihrer Familien und nicht zuletzt der Fachkräfte ausgetragen. Akut ist jedoch, dass wir eine neue Ebene der Erschöpfung und Unsicherheit durch die aktuellen Krisen und den bildungspolitischen Umgang damit erreicht haben, sodass viele Fachkräfte Priorisierungen bezüglich ihrer Kapazitäten vornehmen. Viele haben das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Das betrifft leider den ganzen sozialen Bereich und ist in seiner Gesamtheit ein Thema, das dringend politische und kollektive Lösungsansätze braucht.

 

Welche strukturellen Schritte müssen aus Ihrer Sicht gegangen werden, um Zugangsbarrieren und selektiver Ungleichbehandlung entgegenzuwirken? 

Es braucht einen umfassenden Maßnahmenplan mit zahlreichen angemessenen Bausteinen und Strategien, die sich auf die verschiedenen Ebenen und Aspekte dieser hyperkomplexen Thematik konzentrieren. Um einige Beispiele zu nennen:
Im Rahmen der Bildungspolitik sollte die Verankerung einer kinder- und menschenrechtlichen Haltung in den Bildungsplänen in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und der Expertise aus verschiedenen Communities erfolgen. Eine diskriminierungskritische und intersektionale Überarbeitung von Kriterien, Standards und Indikatoren der frühkindlichen Bildung ist erforderlich. Diese sollte die Pluralität unserer Gesellschaft wertschätzend betrachten und der Verharmlosung von Diskriminierungserfahrungen entgegenwirken. Akteur*innen in der Verwaltung, wie etwa bei der KiTa-Aufsicht und Fachberatungsstellen der frühkindlichen Bildung, sollten professionalisiert und begleitet werden, um die Einrichtungen und Familien - präventiv und akut - angemessen unterstützen zu können.
Die Verankerung einer diskriminierungskritischen Bildung, Ausbildung und Weiterbildung von pädagogischen Leitungen, Fachkräften und anderem Personal der Einrichtungen ist von zentraler Bedeutung. Eine heterogenere Zusammensetzung von Teams ist ebenso notwendig. Und vor allem sind natürlich entsprechende Ressourcen erforderlich, einschließlich finanzieller Mittel, professioneller Unterstützung und mehr Personal auf allen Ebenen, um KiTa-Kinder angemessen zu begleiten und um Gleichberechtigung und Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen.

 

Herzlichen Dank für das spannende Gespräch!

©Leoní Weber Bordo