Stimmen aus der Praxis: Franziska Korn und Benedikt Wirth

von der Koordinierungsstelle „Kinder mit Fluchthintergrund in der Kindertagesbetreuung“ der Karl Kübel Stiftung

Franziska Korn ist seit 2017 Projektreferentin für die durch das Hessische Ministerium für Soziales und Integration geförderte Koordinierungsstelle „Kinder mit Fluchthintergrund in der Kindertages­betreuung“ bei der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie. Seit 2021 ist sie außerdem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel. Ihre Schwerpunkte sind frühkindliche Bildung, Familien im Kontext von Flucht und Asyl sowie die Professionalisierung frühpädagogischer Fachkräfte mit dem Schwerpunkt Migration und Diversität.

Benedikt Wirth ist seit August 2021 Projektreferent in der Koordinierungsstelle „Kinder mit Fluchthintergrund in der Kindertagesbetreuung“. Außerdem ist er dort für das Projekt „Demokratie (er)leben - Familienzentren als Orte gelebter Demokratie“ zuständig. Zuvor studierte er u. a. Kultur- und Sozialwissenschaften an der Universität Heidelberg mit den Schwerpunkten Migration, sozialer Zusammenhalt und Intersektionalität. Darüber hinaus war er in verschiedenen Initiativen der Antidiskriminierungs- und Jugendarbeit aktiv und hat in der Hortbetreuung gearbeitet.
 

Angesichts des Krieges gegen die Ukraine: Welche Unterstützung brauchen (geflüchtete) Kinder in der KiTa jetzt? Wie können Fachkräfte Krieg und Frieden kindgerecht thematisieren?

Das ist eine sehr umfangreiche Frage, denn wir sprechen hier zum einen von den geflüchteten Kindern, die gerade neu dazukommen, aber auch von den Kindern – geflüchtet oder nicht geflüchtet – die bereits seit einer ganzen Weile eine KiTa in Deutschland besuchen.

Für alle Kinder gilt letztendlich der Leitgedanke, sie mit ihren Bedürfnissen und Biographien wahrzunehmen und zu bestärken. Die UN-Kinderrechtskonvention ist dabei richtungsweisend. So besitzt zum Beispiel jedes Kind ein Recht auf Schutz im Krieg und auf der Flucht, ein Recht auf Meinungsäußerung, Information und Gehör, ein Recht auf Gleichheit, ein Recht auf Gesundheit oder auch ein Recht auf Spiel, Freizeit und Ruhe. Der Auftrag an die pädagogische Betreuung lautet also ganz klar, die Situation und Bedarfe der Kinder immer ganz individuell im Blick zu haben, und stets dort Hilfe zu leisten oder zu vermitteln, wo es nötig und möglich ist. Das ist sehr viel Verantwortung, daher ist es auch sehr wichtig, dass sich Fachkräfte ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewusst sind und wenn nötig anderes Fachpersonal einschalten oder auf weitere Hilfsangebote zurückgreifen. Aus diesem Grund sollte jede KiTa einen guten Überblick über die Sozialstrukturen in ihren jeweiligen Sozialräumen haben. Wo eignen sich möglicherweise sprachmittelnde Angebote und wie lassen sich diese finanzieren? Welche Angebote psychosozialer Beratung lassen sich im weiteren KiTa-Umfeld vermitteln, falls Kinder oder Familienangehörige mit traumatischen Belastungen zu kämpfen haben? Welche weiteren Fördermöglichkeiten gibt es? Hilfreiche Informationen für das Land Hessen vermittelt u. a. unsere Koordinierungsstelle „Kinder mit Fluchthintergrund in der Kindertagesbetreuung“, hilfreiche Informationen auf Bundesebene vermitteln hierzu etwa die Arbeitshilfen des Nationalen Zentrums Frühe Hilfe.

Die individuelle Unterstützung und Bedürfnisorientierung wird auch wichtig, wenn es um die Frage geht, wie sich die Themen Krieg und Frieden kindgerecht thematisieren lassen. Wenn Kinder sichtlich von den Eindrücken aus Krieg und Flucht bewegt sind, darf diesen nicht verwehrt bleiben darüber zu sprechen und Informationen einzufordern. Auf ihre Fragen und Sorgen sollte ernsthaft eingegangen werden, ohne sie unnötig durch zusätzlich belastende Neuinformationen zu beunruhigen. Die Vermittlung von Informationen durch Kindernachrichten kann an dieser Stelle helfen die richtige Sprache zu finden. Für die Thematisierung in der Gruppe ist das Stichwort „Frieden“ vermutlich besser geeignet. Denn letztendlich geht es darum ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln und die KiTa als sicheren Ort zu gestalten.

 

Inwieweit und in welcher Form sollten Eltern in das, was zum Thema Krieg in der KiTa besprochen wird, einbezogen werden? Welche Hinweise haben Sie für die Zusammenarbeit im Team vor dem Hintergrund des Krieges? Wie kann mit möglichen Konflikten umgegangen werden?

Gerade beim Thema Krieg scheint es sehr wichtig, transparent zu sein. Sowohl für Eltern als auch für Fachkräfte ist es von Interesse, ob und inwiefern das Thema angesprochen wird. Die Kinder in der KiTa bringen ganz unterschiedliches Wissen und oftmals sehr verschiedene Bezüge zu den Themen Krieg und Flucht mit und somit gibt es eben auch individuelle Ressourcen und Bedürfnisse. Gespräche mit Eltern können dabei helfen bestimmte Reaktionen besser zu verstehen und die Angebote oder Projektideen ggf. anzupassen. Umgekehrt können Eltern davon profitieren zu erfahren, wie sich diese schwierigen Fragen auch zuhause gut begleiten lassen. Es macht Sinn eine offene Gesprächsatmosphäre zu schaffen, um sowohl mit den Familien aber auch intern im Team stets über mögliche Unsicherheiten im Austausch zu bleiben. In diesen Gesprächen sollte – falls relevant – weniger der politische Kontext von Krieg und Konflikt als der tatsächliche Kontext vor Ort, also die Situation in der KiTa oder im Sozialraum im Vordergrund stehen, um potentielle Konflikte vorzubeugen und den eigentlichen pädagogischen Aufgaben gerecht zu werden. Krieg und Verfolgung sind immer auf das Schärfste zu verurteilen und es ist wichtig, sich solidarisch mit den Betroffenen zu zeigen. Es muss möglich sein, dass sich alle darauf einigen. Gleichzeitig können politische Diskussionen in der Kindertagesbetreuung jedoch vermehrt zu Konflikten zwischen Eltern oder im Team führen. Diese sollten jedoch nicht am Betreuungsort ausgetragen werden. Es gilt bei all dem deutlich zu machen, dass das Kindeswohl im Vordergrund der pädagogischen Arbeit steht.

 

Die aktuelle Situation zeigt uns, dass Freiheit und Frieden in Europa nicht selbstverständlich sind. Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang frühe Demokratie- und Vielfaltsbildung?

Gerade im Kontext von Krieg und Frieden ist es sinnvoll, dass sich auch die Kindertagesbetreuung eingehend mit Fragen der Demokratie und der Demokratiebildung befasst. Demokratie sichert nicht nur den Frieden in unserer Gesellschaft, sondern bietet auch einen Leitfaden, um Konflikte friedlich zu lösen. Denn aufbauend auf den Prinzipien des Grundgesetzes werden hier Privilegien der Freiheit und Gleichheit miteinander verhandelt – das gilt insbesondere im Kontext von Vielfalt. So hat zum Beispiel jeder Mensch das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insofern dabei nicht die Rechte anderer verletzt werden. Dabei gilt: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Diese Prinzipien der Freiheit und Gleichheit sind durch das Grundgesetz garantiert, werden in einer lebendigen Demokratie, aber auch aktiv durch die Zivilgesellschaft mitgestaltet. Doch dieses aktive Mitgestalten muss erst einmal erlernt werden und das am besten schon so früh wie möglich. Die Rechte und Bedürfnisse von Kindern gilt es somit noch einmal ganz besonders hervorzustellen. In Hessen gibt es daher beispielsweise eine hauptamtliche Kinderrechtebeauftragte, die die Durch- und Umsetzung der Kinderrechte im Land aktiv fördert und in den Blick nimmt.

Die Kindertagesbetreuung ist, neben der Familie, einer der ersten Orte, an dem Demokratie erlernt und erlebt werden kann. Am besten funktioniert das über ernsthafte Beteiligungsstrukturen im pädagogischen Alltag. Wie werden Regeln aufgestellt und vermittelt? Wer entscheidet wie, wann geschlafen wird oder was es zu essen gibt? Warum ist es wichtig, dass diese Fragen gestellt und besprochen werden? Allein anhand solcher Fragen wird deutlich, wie vielschichtig Entscheidungsprozesse nach demokratischen Maßstäben bereits in der KiTa sind und sein müssen. Über kurz oder lang können konsequente demokratische Beteiligungsstrukturen zu einem Miteinander führen, das von allen Beteiligten – Kindern, Fachkräften und auch den Eltern – als gerecht und gewinnbringend wahrgenommen wird. Kinder erfahren so den Mehrwert davon, die Freiheit anderer zu respektieren und erlernen dabei gleichzeitig ihre eigenen Bedürfnisse auszudrücken sowie ihre eigene Selbstwirksamkeit zu erkennen.

In Konfliktsituationen kann das beispielsweise bedeuten, dass allen Konfliktparteien erst einmal ohne Wertung zugehört wird, solange sie die Würde oder das Recht auf Gleichheit der anderen nicht verletzen. Kinder sollten in diesen Situationen erst einmal die Möglichkeit bekommen einen Konflikt angemessen aus ihrer Perspektive zu erklären – das Recht gehört zu werden. Dabei braucht es klare Gesprächsregeln: Wann höre ich zu? Wann rede ich? Pädagogische Fachkräfte vermitteln in diesem Kontext lediglich bei Verständnisproblemen und sorgen dafür, dass die Gesprächsregeln eingehalten werden. Gemeinsam kann so nach friedlichen Konfliktlösungen gesucht werden.

 

Vor dem Hintergrund Ihrer langjährigen Beratungstätigkeit zu Kindern mit Fluchthintergrund der frühkindlichen Bildung: Wie sind die Akteur*innen des Elementarbereichs pädagogisch aufgestellt? Gibt es etablierte Methoden und Konzepte zur Inklusion in diesem Kontext (auf die nun in der aktuellen Situation zurückgegriffen werden können)?

In den letzten Jahren hat sich im Bereich der frühen Bildung bereits sehr viel getan und es kann sicherlich auf bestehende Konzepte zurückgegriffen werden. Wichtige Anknüpfungspunkte sind die Bildungs- und Erziehungspläne der Länder, etwa mit Begriffen wie Resilienz, Demokratie oder Vielfalt. Wie lassen sich Kinder beispielsweise im Spiel mit anderen in ihrem Selbstwertgefühl stärken? Wie gestaltet sich über Differenzen hinweg ein „Wir-Gefühl“, das auf gegenseitigem Respekt, Toleranz und Solidarität beruht? Wie kann soziokulturelle Vielfalt wertschätzend aufgegriffen und zu einer bereichernden Lernsituation für alle werden?

Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration hat bereits im Jahr 2015 mit regionalen Fachtagungen einen verstärkten Austausch im Bereich Kinder mit Fluchthintergrund für Fachkräfte sowie die Beratungs-und Managementebene der Kindertagesbetreuung in Hessen angeregt, deren Durchführung die Karl Kübel Stiftung von 2016 bis 2018 übernommen hat. Dabei standen etwa Themen wie Teilhabe und Ko-Konstruktion, niedrigschwellige Angebote für neuzugewanderte Kinder und Familien, Kultursensitivität oder der Umgang mit traumatisierten Kindern und ihren Familien im Vordergrund. Über die regionalen Beratungs- und Servicestellen „Kinder mit Fluchthintergrund in der Kindertagesbetreuung“ wurde entlang dieser Themen zeitgleich ein umfassendes Beratungs- und Vernetzungsangebot für pädagogische Fachkräfte geschaffen.

Seit 2019 ist die Hessische Koordinierungsstelle „Kinder mit Fluchthintergrund in der Kindertagesbetreuung“, die sich am Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0-10 Jahren des Landes orientiert, außerdem als Anlaufstelle der Beratungs- und Managementebene der frühen Bildung für fachliche und inhaltliche Beratungs- und Serviceanfragen rund um das Thema Flucht und Migration sowohl für Kindertageseinrichtungen als auch für Kindertagespflegestellen in der Karl Kübel Stiftung verankert. Wichtige fachliche und methodische Ansatzpunkte sind auch hier Kultursensitivität und Teilhabe, diskriminierungskritische Perspektiven und vorurteilsbewusstes Handeln, die Zusammenarbeit mit Familien, Mehrsprachigkeit und sprachliche Zugänge sowie die Kinderrechte. Gerade jetzt können wir trotz der neuerlich gesteigerten Anforderungen, zumindest im Land Hessen, feststellen, dass bereits viele Ressourcen entwickelt wurden, auf denen man heute aufbauen kann. Dabei bleibt die Koordinierungsstelle, neben den ebenfalls kostenlosen Beratungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten rund um den hessischen Bildungs- und Erziehungsplan, eine verlässliche Anlaufstelle für Fragen und Beratungsbedarf.

Rückmeldungen aus der Praxis zeigen: Insbesondere die Einrichtungen, die sich in ihren pädagogischen Konzepten bereits in den letzten Jahren kritisch und intensiv mit den Themen Vielfalt und Inklusion auseinandergesetzt haben, sind heute besonders gut in der Lage neue geflüchtete Kinder und ihre Bezugspersonen angemessen zu begleiten und in ihrem Ankommen zu unterstützen. Dabei fangen erfolgreiche Methoden und Konzepte der Vielfalt und Inklusion bereits mit ganz einfachen Fragen an: Können sich alle Kinder mit ihren Familien in den vorhanden Spielmaterialen in unserer Einrichtung wiederfinden? Welche Materialien sind überholt und verfestigen Stereotype? Gehen wir bereits professionell mit dem Thema Mehrsprachigkeit um und wo lässt sich ggf. Unterstützung finden? Welche Hilfestrukturen und Angebote über die KiTa hinaus gibt es bereits in meiner Kommune und Region, die z. B. für geflüchtete Familien relevant sind? Welche Möglichkeiten haben wir, um offene Räume für Austausch und Begegnung zu schaffen? Für Hessen liefert die Handreichung „Kinder mit Fluchthintergrund in der Kindertagesbetreuung“ hilfreiche Antworten.

 

Inwiefern können digitale Medien aus der Ukraine geflüchteten Kindern (und ihren Bezugspersonen) helfen in der Kindertagesbetreuung in Deutschland anzukommen? Können Sie Beispiele nennen?

Digitale Medien bieten, neben allen Risiken, sicherlich eine gute Möglichkeit geflüchteten Kindern und ihren Bezugspersonen, ob aus der Ukraine oder aus anderen Herkunftsländern, das Ankommen in Deutschland leichter zu machen. Gerade zu Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine war der Bedarf an digitalen Medien, wie kindgerechten Kurzfilmen in ukrainischer Sprache groß, denn solche können nicht nur helfen von den Schrecken des Kriegsgeschehens abzulenken, sondern haben oftmals auch einen bildenden Mehrwert für Kinder, deren Zugänge gerade in der Anfangsphase aufgrund sprachlicher Barrieren noch erschwert sind. Gegebenenfalls gibt es auch eine deutsche oder anderssprachige Version der Medienprodukte und so wird bereits ein erster Austausch zwischen den Kindern und auch den Fachkräften möglich. Darüber hinaus kann die Nutzung digitaler Medien auch sehr unkompliziert mit den Familien der Kinder geteilt werden. Dies schafft Vertrauen und macht den KiTa-Alltag transparenter. Etwa in der ARD-Mediathek befinden sich mittlerweile einige hilfreiche digitale Materialien, die auch in ukrainischer Sprache verfügbar sind. Im gleichen Sinne lassen sich analog übrigens auch mehrsprachige Bilderbücher verwenden. Durch das gemeinsame Lesen in unterschiedlichen Sprachen können Unterschiede und Gemeinsamkeiten spielerisch miteinander entdeckt werden.

Mit Blick auf die Bezugspersonen, mit denen noch keine ausreichend gemeinsame Sprachbasis hergestellt werden kann, können digitale Medien besonders hilfreich sein. Der digitale Schriftverkehr ermöglicht es unklare Worte direkt zu übersetzen – dabei sollte allerdings beachtet werden, dass Dinge, die gegebenenfalls missverstanden werden könnten nichtsdestotrotz besser über das persönliche Gespräch, möglicherweise sogar unterstützt durch Sprachmittlung, zu regeln sind. Die Möglichkeit des Teilens von besonderen Aktionen, Festen, Tagesabläufen und allgemeinen Informationen zum KiTa-Alltag über Apps, Newslettern oder Mailings, sollte auf jeden Fall genutzt werden. Nicht allen geflüchteten oder neuzugewanderten Familien ist immer direkt klar, wie der Alltag in der deutschen Kindertagesbetreuung aussieht. Regelmäßige digitale Updates sind relativ niedrigschwellig und sorgen dementsprechend für den notwendigen Informationsfluss, um Vertrauen und eine funktionierende Beziehung aufzubauen. Außerdem gibt es bereits einige Erklär-Videos zum KiTa-System in Deutschland. Auch diese können das Ankommen in Deutschland erleichtern.

Ergänzend zum Einsatz digitaler Medien bietet „Kamishibai“ eine ganz besonders spannende Möglichkeit für das gemeinsame Lesen und Lernen in der Gruppe: Die Methodik des japanischen Erzähltheaters ist niedrigschwellig und lässt sich schnell erlernen. Sie ermöglicht es diverse kulturelle und sprachliche Zugänge mit spielerischen, sinnlichen und bildlichen Mitteln gemeinsam zu erkunden und fördert somit nicht nur den Spracherwerb, sondern auch die persönliche Begegnung.

 

Vielen Dank für das interessante Gespräch!

© Franziska Korn und Benedikt Wirth