Stimmen aus der Praxis: Anja Behnert

Anja Behnert ist Kindheitspädagogin mit den Schwerpunkten Organisationsentwicklung und Inklusion. Sie ist seit vielen Jahren als Kitaleiterin tätig. Als Dozentin für frühkindliche Bildung und Entwicklung sowie Organisationsentwicklung bietet sie Fortbildungen und Beratungen an zu Themen wie Dialoge mit Kindern, Sprache und Bedürfnisse, Gesprächsführung und Elternabende. Ihre Expertise zur frühkindlichen Sprachförderung bringt sie auch als Fachberaterin im Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ und im Projekt „Sprachberatung Prignitz und LOS“ ein.
 

Im Zuge der Corona-Pandemie wird verstärkt der Einsatz digitaler Medien in der Kindertagesbetreuung eingefordert. Es gibt jedoch auch kritische Stimmen, die der Digitalisierung in der Kita eher skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen. Was ist ihre Meinung?

Zu Beginn würde ich mich fragen, vom wem der verstärkte Einsatz eingefordert wird und mit welchem Ziel? Ich würde mir wünschen, dass Kindertageseinrichtungen sich auf den Weg machen digitale Medien zu nutzen und dabei aber auch ihren Mehrwert für die einzelne Situation kritisch hinterfragen. Digitale Medien können aus meiner Sicht als ein hilfreiches Handwerkszeug genutzt werden, z.B. als ein unterstützendes Medium, damit trotz Hindernissen der Kontakt zu Kindern und ihren Familien aufrechterhalten bleiben kann; Elterngespräche oder Elternversammlungen geführt werden können, wenn es Terminprobleme mit Präsenzveranstaltungen gibt; mehr Teilhabe ermöglicht werden kann oder auch um Dienstberatungen abzuhalten. Wir haben gelernt, dass es so gelingt auch unter den gegenwärtigen Bedingungen Transparenz herzustellen und gemeinsam an Themen zu arbeiten. Auch für die Lernwelt der Kinder würde ich die digitalen Medien als Handwerkzeug und nicht als Unterhaltungsmedium oder Selbstzweck verstehen.
 

Inwiefern können digitale Medien dazu beitragen, den Auswirkungen und Herausforderungen der Corona-Pandemie in der Kindertagesbetreuung zu begegnen? Welche Chancen und welche Grenzen sehen Sie in der Digitalisierung für die frühe Demokratiebildung?

Aus meiner Erfahrung im vergangenen Jahr waren die digitalen Medien eine gute Möglichkeit, um den Kontakt zu den Kindern und ihren Familien zu halten. In unserer Einrichtung haben wir im ersten Lockdown weit über 150 kleine Filme erstellt, damit die Kinder, die nicht in die Einrichtung kommen konnten, uns sahen und unsere Stimmen hörten. Wir haben auf diesem für uns neuen Weg versucht, die Beziehung zu halten, unsere Arbeit zu zeigen und die Rückkehr in die Einrichtung zu erleichtern. In den Filmclips haben Kolleg*innen gesungen, vorgelesen, Impulse zum Experimentieren und Werkeln gegeben, haben zusammen Sport gemacht, zum Geburtstag gratuliert, gemeinsam Geschichten erfunden und die Kinder in unsere Angebote einbezogen, um die Situation interaktiv zu gestalten. Es war überraschend und schön zu sehen, dass wir in gemeinsamen Videokonferenzen mit den Kindern hören konnten, wie es ihnen geht, was sie bewegt und was gerade ihre Themen sind. So haben wir versucht, uns an ihren Erfahrungen und an ihren Lebenswelten zu beteiligen.

Wie gut dies auch (und vielleicht gerade) online funktionierte, war auch für uns eine neue Erfahrung. Es hat unser Team insgesamt gestärkt zu erfahren, dass es immer gelingen kann neue Wege zu finden, wenn Gewohntes nicht mehr möglich ist. Gemeinsam im Team Neues auszuprobieren, in Chancen zu denken und gemeinsam voneinander zu lernen, hat uns sehr gestärkt. Die Familien haben gemerkt, mit welchen vielfältigen Möglichkeiten wir den Kontakt gehalten haben und wie wichtig uns dies von Anfang an war.

Natürlich sind wir auch an Grenzen gestoßen. Die Online-Kontakte können niemals den realen Kontakt ersetzen, aber sie sind in jedem Fall eine wichtige Ergänzung und manchmal auch eine Alternative, die wir auch in der Zukunft nutzen möchten. So könnte Kontakt zu Kindern gehalten werden, die eine Weile nicht in die Kita kommen können oder ein Elternteil könnte sich digital zum Elterngespräch zuschalten. Zudem eröffnet es auch dem Team selbst die Möglichkeit auch in Zukunft z.B. in Teilen an der Dienstberatung von zu Hause teilzunehmen. Wir haben auch unterschiedliche Online-Fortbildungen genutzt und schätzen die dadurch gewonnenen Zeitressourcen, da die Fahrtwege wegfallen.

Als Chance sehe ich somit die Möglichkeit, aus der Ferne in Kontakt zu bleiben und Themen gemeinsam zu bearbeiten. So kann Teilhabe ermöglicht werden, die ohne diese Medien nicht oder nur schwer möglich wäre. Allerdings sollten wir digitale Medien immer nur als Handwerkszeug nutzen und sie nicht gedankenlos einsetzen. Dabei steht die Frage nach dem Ziel des Einsatzes im Vordergrund und die Überlegung, ob dieses Ziel wirklich nur (oder sehr viel besser) mit digitalen Medien erreicht werden kann. Es muss sich stets gefragt werden: Wann sind digitale Medien hilfreich und wann sind sie nur ein „Zeitvertreib“, der Energie und Erfahrungen in der realen Welt raubt oder verhindern soll, dass Langeweile aufkommt? Vermutlich ist diese Abwägung jeweils ein schmaler Grat. Mit meinen bisherigen Erfahrungen würde ich digitale Medien somit als ein weiteres Mittel begreifen, das bei vielen Kindern und ihren Familien zur Lebenswelt dazugehört. Es ist wichtig darauf zu achten, altersangemessene Inhalte zu nutzen und zu lernen, diese zu hinterfragen. Die Kindertageseinrichtung könnte Familien unterstützen, einen auf die Bedürfnisse eines jeden Kindes und seiner Familie angepassten Weg zu finden. Für Kinder kann es eine wichtige Erfahrung sein, selbst kompetent (und zuweilen sogar kompetenter als Erwachsene) im Umgang mit diesen neuen Handwerkszeugen zu sein.
 

Sind Kitas und Kindertagespflegepersonen im Zuge der Corona-Pandemie nun besser digital ausgestattet? Braucht es noch bestimmte Voraussetzungen, damit digitale Medien sinnvoll in der frühpädagogischen Arbeit genutzt werden können?

Ob Kitas und Kindertagespflegepersonen nun besser ausgestattet sind, kann ich nicht pauschal beantworteten. Aus meiner Sicht machen sich viele Einrichtungen und Kindertagespflegepersonen auf den Weg Neues auszuprobieren. Viele Fachkräfte sind sehr engagiert, mitunter scheitert es jedoch an den Voraussetzungen und oder den Rahmenbedingungen. Notwendige Veränderungen brauchen oft viel Zeit. Eine große Unsicherheit gibt es zum Thema Datenschutz. Viele größere Träger haben eine IT-Abteilung, die es kaum möglich macht, digitale Medien zu nutzen, sondern jeden Zugang abschirmt.

Zu Beginn der Corona-Pandemie habe ich erfahren, dass viele Einrichtungen sehr skeptisch und unsicher im Umgang mit den neuen Medien waren. Mittlerweile haben viele Einrichtungen die Vorteile erkannt und genutzt, besonders in der Zusammenarbeit mit den Familien und im Team.

Die Voraussetzungen, die benötigt werden, sind dabei sehr unterschiedlich. In vielen Kitas fehlt es an der erforderlichen Hardware, dann ist kein Internet vorhanden oder die Verbindungsqualität ist zu schlecht. Teils gibt es auch erhebliche Unsicherheiten im Team.
Der Träger und die Einrichtungsleitung haben zweifellos bei der Lösung von Problemen eine Schlüsselrolle. Im Team ist es wichtig Unsicherheiten zuzulassen, die unterschiedlichen Meinungen zu reflektieren und eine gemeinsame Haltung zum Umgang mit Problemen zu finden. Hilfreich ist es, bei allen Veränderungen die Stärken der einzelnen Teammitglieder im Blick zu haben und auszuhalten, dass Veränderungen auch Irritationen mit sich bringen können. Wenn es eine gemeinsame Vision gibt und die Zuversicht, dass die Veränderungen zur Stärkung dieser Vision beitragen, dann ist dies eine tragfähige Basis.
 

Wie beurteilen Sie die Quantität und Qualität dialogischer und sensitiver Interaktionen in der Kindertagesbetreuung? Sollte es mehr Fortbildungen in diesem Bereich für pädagogische Fachkräfte geben?

Aufgrund von verschiedenen Untersuchungen und Studien, aber auch meiner Erfahrungen sehe ich noch viel Veränderungsbedarf in der pädagogischen Praxis in Bezug auf die Quantität und die Qualität von dialogischer und sensitiver Interaktion. Hier ist meines Erachtens noch sehr „viel Luft nach oben“. Es muss unser Ziel sein, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, gemeinsam zu fachsimpeln und zu philosophieren. Miteinander Gedanken auszutauschen ist bedeutsam für eine wertschätzende Beziehung und besonders für die kognitive Entwicklung wie für die Förderung der Sprachentwicklung. Untersuchungen zeigen, dass der gemeinsame Dialog mit Kindern im Tagesablauf jedoch noch zu wenig Raum findet. Ansagen, Aufforderungen und der kurze Austausch von Informationen überwiegen noch zu oft. Teamfortbildungen und gemeinsame Reflexionen sind hier sicher gute Möglichkeiten, um eine sprachanregende Begleitung und Förderung aller Kinder zu unterstützen.

Beziehe ich diese Frage auf den Einsatz digitaler Medien in der Kita, so fallen mir eine ganze Reihe von Beispielen ein für die förderliche Wirkung dieser Medien. Bei einer Videokonferenz zum Bespiel mit Kindergartenkindern, die während der Betriebseinschränkung zu Hause blieben, bestand ein vierjähriger Junge darauf, uns durch einen Rundgang mit dem Tablet seines Vaters seine Wohnung zu zeigen und seine liebsten Ecken und Spielzeuge vorzustellen. Während des Rundgangs entdeckte er die Feuermelder an den Zimmerdecken. Daraus entstand ein langer reger fachlicher Austausch über die Wichtigkeit von Feuermeldern. Ein anderes Beispiel für den beziehungsstärkenden, reflektierenden und sprachfördernden Austausch ist ein Kind, das aus unserer Sicht zu viele altersunangemessene Videospiele zur freien Verfügung hat und kaum ein anders Thema für sein Spiel in der Einrichtung für ihn interessant war. Wir haben versucht, sein Interesse nachzuvollziehen und haben uns auf sein Thema eingelassen, um nach und nach weitere Themenfelder in die Gespräche einzubeziehen. So haben wir versucht ihn wieder mit seinen Gedanken in die reale Welt zu locken. Uns war es wichtig, nicht gegen sein Interesse zu argumentieren, sondern Impulse zu setzen und sein Interesse an weiteren Themen zu wecken.
 

Wie kann eine kinderrechts- und demokratiebasierte Gesprächsführung mit Kindern und Eltern aussehen? Wie kann eine vorurteilsbewusste Zusammenarbeit mit Eltern gelingen?

Mit dieser Frage ist ein weiteres sehr umfassendes und differenziertes Thema angesprochen, auf das es keine kurze Antwort gibt. Ich kann deshalb nur ein paar Stichworte beitragen, die mir im Moment besonders wichtig erscheinen.

Aus meiner Sicht sind gutes Zuhören und das Wechseln der Perspektive hierfür wichtige Voraussetzungen. Wenn Sorgen, Ängste, Wünsche und Anregungen der Gesprächspartner*innen angehört und verstanden werden, kann es gelingen auf diese Bedürfnisse einzugehen, um eine Verständigung zu erreichen über das, was in einer Einrichtung möglich ist. Das setzt nach meiner Erfahrung einen beständigen gemeinsamen Austausch mit den Kindern wie auch mit ihren Familien voraus und das Bemühen um Transparenz über Ziele, Wege und Bedingungen der eigenen pädagogischen Arbeit. Nach vielen Berufsjahren würde ich heute sagen, dass sich für fast alle Bedürfnisse von Kindern und Eltern eine gute Lösung finden lässt, die eine Kita nicht überfordert. Voraussetzung ist, die Sichtweise der jeweils anderen Seite als grundsätzlich berechtigt anzusehen. Eine gute Zusammenarbeit des Teams ist hier eine starke Ressource, um ein familienunterstützendes System zu sein.

Für eine vorurteilsbewusste Zusammenarbeit im Team, in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern und im Kontakt mit den Familien ist es unerlässlich, sich mit den eigenen Vorurteilen und ihrer Verankerung in der eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Über den eigenen Tellerrand zu schauen, offen zu bleiben und wertschätzend und achtsam anderen Menschen gegenüber zu sein, sollte zur Teamkultur gehören. Dies kann sicher nur nach außen gelebt werden, wenn dies auch im Team gelingt. Daher muss auch hier ein Fokus in der Teamentwicklung und der Teamkultur liegen. Eine bedeutsame Schlüsselrolle obliegt auch hier der Kitaleitung und der Trägervertretung – insbesondere auch als Vorbild.

Aus diesem Grund versuche ich mich selbst zu hinterfragen, warum mich etwas irritiert, ärgert oder verunsichert; denn daran wird deutlich, dass hiermit mein Thema oder mein Konflikt angesprochen wurde. Das mag wie eine hohe moralische Norm klingen; es ist aber auch spannend, manchmal lustig oder auch schmerzhaft, macht aber eine schöne Seite des Berufs aus: als Lernende in einer lernenden Organisation!

Praktisch verlangt das die Bereitschaft nachzufragen, wenn etwas nicht verstanden wird, um den eigenen Horizont zu erweitern. Zu überlegen, was die Frage hinter der Frage ist, zeigt auch meist Handlungsmöglichkeiten auf. Je besser ich mich selbst in die Situation des Anderen hineinversetzen kann, umso mehr kann ich nachfühlen. Hierdurch eröffnet sich ein Weg für ein besseres Verständnis und statt mich zu ärgern oder gekränkt zu sein, kann ich einfach fragen, was gebraucht wird. „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus!“ klingt wie eine simple Aussage, ist aber meist wahr und die Voraussetzung, auch von Eltern Wertschätzung für die Arbeit der Kita zu bekommen. Der gemeinsame wertschätzende und achtsame Blick auf die Kinder ermöglicht es für mein Verständnis, gemeinsam im Team und den Familien eine entwicklungsförderliche Zusammenarbeit mit den Familien zu leben.
 

Vielen Dank für das inspirierende Gespräch!

Das Foto zeigt Anja Behnert
©Anja Behnert