Stimmen aus der Praxis: Elisabeth Dannenmann

Elisabeth Dannenmann arbeitet seit vielen Jahren als Sozialpädagogin bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Schleswig-Holstein in verschiedenen Feldern der sozialen Arbeit. Seit 19 Jahren ist sie Leiterin der Einrichtung KiTa-Zwergenland. Sie ist Multiplikatorin für interkulturelle Öffnungsprozesse und vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, Referentin für die Pädagogik für Kinder unter 3 Jahre sowie als Autorin in Fachzeitschriften und als Referentin in der Fort- und Weiterbildung tätig.

 

Sie haben langjährige Erfahrung in der Umsetzung von Partizipation und Vermittlung interkultureller Kompetenz im frühpädagogischen Bereich. Welche Methoden erachten sie als besonders geeignet. Was sind Voraussetzungen für eine gelungene Demokratie- und Vielfaltspädagogik?

Die wichtigste Voraussetzung für eine gelungene Demokratie- und Vielfaltspädagogik ist die eigene reflektierte Haltung mit der großen Bereitschaft, Macht abzugeben und Kindern zuzutrauen, sie an dem was sie selbst und das Leben in der Gemeinschaft betrifft, zu beteiligen. Pädagogische Fachkräfte brauchen für diese Praxis selbst flache Hierarchien im eigenen Arbeitsfeld und auf jeden Fall ein Gesamtteam, was im Konsensverfahren die Beteiligungsrechte der Kinder erarbeitet, fortschreibt und zuverlässig sicherstellt. Parallel ist es wichtig, Supervision und auf Themen zentrierte jährliche Fortbildungen im Gesamtteam zu ermöglichen, um zum Beispiel eigene Grenzen zu erweitern und neue Kolleg*innen umfassend zu integrieren.

Zu den Methoden gehören unter anderem ein wertschätzender und neugieriger Dialog mit dem Kind, eine Verfassung für die Einrichtung, zuverlässige Gruppenkonferenzen und ein gruppenübergreifendes Gremium, wie bei uns der Hohe Rat, in dem die Ideen und Bedarfe der Kinder Raum bekommen. Daraus wird das pädagogische Handeln, in der die Stimme der Kinder spürbar wird und Selbstwirksamkeit sich nachvollziehbar entfalten darf, abgeleitet.

Eine weitere grundlegende Voraussetzung für eine gelingende Demokratie- und Vielfaltspädagogik ist die systematische interkulturelle Öffnung einer Einrichtung sowie das Selbstverständnis, ergänzend mit Familien zu arbeiten und die Teilhabe aller Beteiligten durchgängig sicherzustellen. Ein Indikator hierfür ist zum Beispiel, dass alle erwachsenen Beteiligten die KiTa als „LernOrt“ erleben und in Anspruch nehmen, ganz im Sinne einer förderlichen Entwicklung eines Kindes, für selbstwirksame Entwicklung- und Bildungsprozesse.
 

Ist die demokratische Teilhabe von Kindern in der Kindertagesbetreuung inzwischen etabliert und ein allgemein anerkannter Qualitätsstandard? Falls nicht: Welche Maßnahmen müssen noch ergriffen werden, um dies zu erreichen?

Die demokratische Teilhabe ist nicht annähernd flächendeckend etabliert, vor allen Dingen nicht im Krippen- und Elementarbereich. In der Regel gibt es einzelne Beteiligungsprojekte mit einer zeitlichen Begrenzung. Die längst überfällige strukturelle Verankerung in allen Einrichtungen in der Kindertagesbetreuung findet in der Fläche nicht statt und hat weder in der Politik noch in den Ausbildungsgängen für pädagogische Fachkräfte einen angemessenen Stellenwert. Aus meiner Sicht fehlt oft noch die erforderliche inhaltliche Kenntnis und persönliche Bereitschaft. In der aktuellen Ausgabe der „Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein“ wird die Bundesfamilienministerin, Dr. Franziska Giffey, erwähnt, die die Ausarbeitung eines Demokratiefördergesetzes vorschlägt. In Schleswig-Holstein soll vor diesem Hintergrund demnächst im Bildungsausschuss des Landtages ein Fachgespräch über eine Stärkung der politischen Bildung in der Schule beraten werden.

Hier bedarf es aber noch weiterer Anstrengungen. Aus meiner Sicht wird die mögliche und notwendige institutionalisierte strukturelle Beteiligung der Kinder vor dem Eintritt in die Schule noch nicht als erforderlich mitgedacht. Zudem werden die Chancen zur „Teilhabe von Anfang an“ als wichtiger Baustein für spätere politische Teilhabe noch nicht genutzt oder erkannt. Um diese pädagogische Landschaft zu verändern und strukturelle demokratische Teilhabe zu etablieren, dürfen Arbeitgeber*innen und Träger*innen nicht nachlassen, sich einzumischen und adäquate Rahmenbedingungen und erweiterte Lehrpläne zum Beispiel für die Ausbildungsgänge für Erzieher*innen einzufordern. Träger*innen von Kindertageseinrichtungen, wie es zum Beispiel meine Arbeitgeberin schon auf den Weg gebracht hat, müssten ihr Unternehmenskonzept überarbeiten und ihre pädagogischen Konzepte der jeweiligen Einrichtungen partizipativ einbetten, um „Teilhabe von Anfang an“ sicherzustellen.
 

Welche Erfahrungen haben Sie als Expertin für interkulturelle Elternarbeit mit der Partizipation von Eltern in der Kindertagesbetreuung gemacht?

Wie können Eltern konkret eingebunden werden? Wie engagiert haben sich Eltern beteiligt? Welche Erfolge und Hindernisse können Sie beobachten?

In meiner Einrichtung gilt zuerst der „verlässliche Dialog“ als Grundlage, alle Eltern an den Bildungs- und Entwicklungsprozessen ihrer Kinder teilhaben zu lassen. Hierfür stellen wir regelmäßig bei Bedarf auch Übersetzungen sicher, stellen unsere konzeptionelle Arbeit auch nonverbal dar und Eltern können sich in der ganzen Einrichtung auf die Spuren ihrer Kinder begeben, weil wir unter anderem die Freiflächen an den Wänden nutzen, um aktuelle Arbeiten ihrer Kinder auszustellen. Wir bieten im Krippen- und Elementarbereich Raum an, wo Eltern sich treffen und austauschen können.

Wir haben, nach einer Krise mit ausgrenzenden Eltern, gemeinsam mit den Eltern und Kindern eine Hausordnung erarbeitet, unter besonderer Würdigung der Menschenrechte. Diese Hausordnung ist verbindlich und von allen erwachsenen beteiligten Akteur*innen zu unterschreiben und einzuhalten. Sie dient als Grundlage für das Zusammenleben in der Gemeinschaft unserer Einrichtung und zur Konfliktlösung, bei Bedarf.

Die Eltern nehmen mit der Zeit die Beteiligungsprozesse ihrer Kinder interessiert wahr und viele Väter und Mütter haben dadurch ein eigenes Interesse daran, sich im Elternbeirat zu engagieren. Wir haben die Wahl am ersten Elternabend im Jahr ersetzt durch eine Wahlwoche. Eltern können sich hier untereinander, bei pädagogischen Fachkräften oder auch bei mir als Einrichtungsleitung informieren, welche Aufgaben auf sie zukommen könnten, wenn sie sich wählen lassen. Wir erstellen eine Liste mit Interessierten an der Tür der jeweiligen Stammgruppe, mit einem Foto von Mutter/Vater und dem Kind, inklusive Nummer und Namen. An den letzten beiden Tagen der Wahlwoche können Eltern wählen. Die Wahlzettel entsprechen den Aushängen. Dieses Verfahren bringt eine hohe Wahlbeteiligung mit sich. Bei der letzten Elternbeiratswahl 2019 haben sich 37 Väter und Mütter aus neun Nationen und sieben Stammgruppen zur Wahl gestellt und die Wahlbeteiligung lag auch in diesem Jahr über 80 Prozent.

Wir bieten Fortbildungen für Eltern an, die sie selbst wählen oder aus unseren Ideen resultieren. Beliebte Themen der Eltern sind zum Beispiel „1. Hilfe am Kind“, oder „Wie spielt mein Kind“. Gerne nehmen die Eltern auch unsere Ideen an, wie zum Beispiel „Wie unterstütze ich die Sprachentwicklung meines Kindes“ oder „Gesunde Zahnpflege und Ernährung“. Hierbei werden wir von unseren langjährigen fachlichen Kooperationspartner*innen aus dem Gesundheitswesen und der hiesigen Fachschule für Sozialpädagogik begleitet. Einige Fortbildungen gestalte ich als Einrichtungsleitung, meist in Begleitung einer pädagogischen Fachkraft.

Interessierte Eltern begleiten mich als Einrichtungsleitung zu kommunalen Veranstaltungen, wie zum Beispiel zur Vollversammlung vom Forum für Vielfalt oder gestalten die jährliche Interkulturelle Woche mit, durch eigene künstlerische Auftritte oder sie erledigen allgemeine Aufgaben.
 

Welche Erfahrungen haben Sie bezüglich der Fort- und Weiterbildungen Ihrer Mitarbeiter*innen gemacht? Welche Rolle spielen diese für eine gelungene Vielfalt- und Demokratiepädagogik?

Ich war seit 1986 in vielen Feldern der sozialen Arbeit bei der AWO beschäftigt, immer in der Aufbauarbeit. Die praktische Arbeit in einer Kindertageseinrichtung gehörte nicht mit in meine berufliche Biografie. Meine Arbeitsfelder waren in der sozialpädagogischen Familienhilfe, in der Jugendberufshilfe, in der Beratungsarbeit bei ProFamilia und in der Straffälligenhilfe. Gleichzeitig war ich immer Betriebsrätin. In dieser Funktion habe ich Anfang 2001 die Vorstellungsgespräche in der KiTa-Zwergenland begleitet. Ein Ergebnis dieses Settings war es, dass ich berufen wurde, die Leitung der Einrichtung zu übernehmen. Damals war die KiTa eine Einrichtung mit drei Gruppen. Heute sind wir eine Einrichtung auf drei Etagen mit sieben Gruppen in einem Quartier mit hohen sozialen Herausforderungen. Und wir durften uns unter anderem so vergrößern, weil wir mit unserer konzeptionellen Arbeit sehr gut die Bedarfe im Quartier auffangen können, für Chancengleichheit stehen und den sozialen Frieden auf unsere Agenda geschrieben haben. In meinen Anfängen erlebte ich einen Paradigmenwechsel für Kindertageseinrichtungen: weg von Einrichtungen zur Aufbewahrung der Kinder hin zu Bildungseinrichtungen. Grundlage hierfür sollten die neuen Bildungsleitlinien in Schleswig-Holstein sein. Ich wurde die fünfte Leitung in vier Jahren und es gab weder partizipative noch interkulturelle Strukturen und Handlungsmöglichkeiten in der KiTa-Zwergenland. Die Atmosphäre unter den pädagogischen Fachkräften und zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern war angespannt und konfliktbehaftet.

Und hier komme ich zu Ihrer Frage: Die pädagogischen Fachkräfte in meiner Einrichtung waren in ihrer Ausbildung nicht vorbereitet worden auf Demokratie- und Vielfaltspädagogik. Die Umsetzung der neuen Bildungsleitlinien waren ihnen fremd. Die pädagogischen Fachkräfte brauchten jemanden, der die Prozesse gemäß den Bedarfen im Quartier mit ihnen gestaltet, mit einer partizipativen Grundhaltung. Sie brauchten jemanden, der sich mit sozialer bzw. sozialpädagogischer Arbeit auskannte. Und das durfte ich sein. Wir holten uns zusätzlich Sachverstand, in Form einer Dozentin der FH Kiel, von außen dazu: Anita Gruber (leider inzwischen verstorben) hat uns viele Jahre lang begleitet, nachdem das Team eine Grundsatzentscheidung dafür getroffen hatte. Mit Anita Gruber haben wir unsere Einrichtung 2003 interkulturell geöffnet. Eine Folge davon war, dass wir unsere konzeptionelle Arbeit dann 2005 mit Rüdiger Hansen vom Institut für Partizipation und Bildung partizipativ eingebettet haben. Jederzeit war es wichtig, mit Sachverstand von außen zu arbeiten, Teamfortbildungen einzurichten und Supervision zu ermöglichen. Pädagogische Fachkräfte und Eltern blühten in der Folge unserer konzeptionellen Überarbeitung auf und alle erwachsenen Beteiligten waren bereit, im Sinne der Kinder kreativer zu kooperieren, abgestimmte partizipative und interkulturelle Strukturen und Handlungsmöglichkeiten zu schaffen. Es war wunderbar zu erleben, dass die pädagogischen Fachkräfte viele Voraussetzungen mitbrachten, um in einen familienergänzenden Dialog zu treten, der die Bildungs- und Entwicklungsprozesse der Kinder beförderte und bis heute befördert. Für mich war es wichtig, freigestellt zu sein und ich verstehe mich bis heute als sozialpädagogische Begleiterin, Koordinatorin und Organisatorin der konzeptionellen Entwicklung in der Einrichtung.
 

Wird Demokratie inhaltlich und strukturell genügend in der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften vermittelt oder erkennen Sie hier noch Nachholbedarf?

In den Ausbildungsgängen der Fachschulen haben sich aus meiner Sicht die Schwerpunkte Demokratie und Partizipation noch nicht etabliert. Alle reden darüber, wissen, sie sollten es tun, doch es hakt gewaltig. Hier sehe ich auch einen Zusammenhang zum erwähnten Paradigmenwechsel ab 2001. Erzieher*innen, die es gewohnt waren, ihr pädagogisches Handeln aus der eigenen Perspektive abzuleiten, mussten sukzessive ihre Handlungen von neuen Erkenntnissen ableiten. Das Kind stand nun im Zentrum der pädagogischen Praxis. Dies bedeutete unter anderem, dass es kein Setting mehr geben sollte und soll, in dem 22 Kinder gleichzeitig eine Laterne basteln. Das notwendige Umdenken der pädagogischen Kolleg*innen wurde in dieser Zeit durch die Implementierung der Bildungsleitlinien in der Fläche begleitet. Es gab viele Fortbildungen vom Land Schleswig-Holstein, an denen Tausende von Fachkräften teilnahmen. Bevorzugte Themen waren Mathematik und Naturwissenschaften, Körper, Gesundheit und Bewegung sowie die musisch-ästhetische Bildung. Hier gab es verschiedene Neuauflagen von Fortbildungsangeboten. Die Querschnittsdimensionen, als Grundlage für zukunftsorientiertes pädagogisches Handeln im Elementarbereich, wurden nicht parallel in vergleichbarer Leidenschaft mitgenommen und es gab nur eine Veranstaltung zur interkulturellen Orientierung, mit genau 80 Teilnehmer*innen. Hier baten die Veranstalter*innen uns um praxisorientierte Inhalte. Ich habe damals schon gelernt, dass die Entwicklung der Vielfaltspädagogik eine Pädagogik der kleinsten Schritte ist.

Für die Ausbildungspraxis pädagogischer Fachkräfte empfehle ich, als Einstieg, regelmäßige fachliche Reflektion und Fortbildung für Dozent*innen zum Thema, um die Notwendigkeit von Demokratie- und Vielfaltspädagogik für den Krippen- und Elementarbereich besser zu erkennen. Ich empfehle, dass Politik die Rahmenbedingungen auf allen relevanten Ebenen schafft, damit Demokratie- und Vielfaltspädagogik endlich den entsprechenden Rahmen und Raum in unserer Demokratie erhalten kann. Ich empfehle, dass die Träger*innen von Kindertageseinrichtung nicht nachlassen, Demokratie- und Vielfaltspädagogik in der Politik einzufordern.
 

Die aktuelle Corona-Pandemie stellt die Kindertagesbetreuung mit all ihren Akteur*innen vor große Herausforderungen: Wie kann aus Ihrer Sicht interkulturelle Kompetenz und Teilhabe in diesen Zeiten beibehalten werden? Wie steht Ihre KiTa derzeit in Verbindung zu den Kindern und ihren Eltern?

Den Kontakt zu Kindern und Eltern zu halten ist von wesentlicher Bedeutung für alle Beteiligten. In der Praxis bedeutet das in unserer Einrichtung, dass alle Kinder, die nicht in Notgruppen betreut werden, Geburtstagskarten erhalten und alle 10 Tage Briefe mit sich selbst erklärenden Mal- und Bastelvorlagen oder ein kleines Pixi-Buch.

Wir telefonieren regelmäßig jede zweite Woche mit den Eltern und Kindern und stellen hierbei im Bedarfsfall wichtige Übersetzung sicher. Wir versuchen hierbei auch Nöte zu erkennen und bei Bedarf Hilfestellung zu geben oder einzuleiten.

Wir stellen seit dem 6. Mai dieses Jahres immer mittwochs ein Lern-Video mit dem Titel „AWO KiTa-Zwergenland für Kinder“ über Neumünster TV auf YouTube ein, mit einer Dauer von 7-10 Minuten.

Der verlässliche Dialog ist für uns eine unverzichtbare Methode, auch und gerade in herausfordernden Situationen.

 

Herzlichen Dank für das interessante Gespräch.