Stimmen aus der Praxis: Thomas Kugler

Thomas Kugler ist Diplom-Sozialpädagoge und seit 2010 als Bildungsreferent bei der Bildungsinitiative QUEERFORMAT tätig, die mittlerweile zur Fachstelle Queere Bildung weiterentwickelt wurde. Im Interview erläutert er, warum geschlechtliche und sexuelle Vielfalt schon im Kita-Alter ein wichtiges Thema ist und vor welchen Herausforderungen Fachkräfte stehen.

 

Warum sollten die Themen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt bereits in der Kindertagesbetreuung eine Rolle spielen?

Wie unsere Erfahrungen in der Fortbildung mit Kindertagesstätten seit 2010 zeigen, spielen diese Themen bereits eine Rolle in den Einrichtungen: Jungen im Prinzessinnenkleid, Mädchen mit Interesse an Fußball oder Technik, Kinder, die wissen wollen, ob es wirklich gleichgeschlechtliche Hochzeiten gibt, Eltern, die genervt sind von der Undurchlässigkeit des gängigen Blau-Rosa-Programms, Leitungen, die ihr Team umsichtig auf das neu angemeldete intergeschlechtliche Kind vorbereiten wollen, Kolleg*innen, die besorgt feststellen, dass ein Kind sich in dem ihm zugewiesenen Geschlecht erkennbar unwohl fühlt, Träger, die ihre Einrichtungen noch inklusiver für Familienvielfalt machen wollen – solche Beispiele zeigen, dass Geschlechtervielfalt bereits vorhanden ist. Sie findet aber noch nicht überall den Raum für eine aktive Auseinandersetzung. Dabei ist der rechtliche Auftrag der UN-Kinderrechtskonvention sehr klar: erklärtes Bildungsziel der Vereinten Nationen ist es, Kinder auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft vorzubereiten (Art. 29 (1)). Diese Erziehung für eine freie und offene Gesellschaft soll Kinder befähigen, mit sozialer Vielfalt wertschätzend, angstfrei und konstruktiv umzugehen. Und zu unserer sozialen Vielfalt gehört eben auch die vorhandene Geschlechtervielfalt, die sich in unserem demokratischen Gemeinwesen entwickelt hat. Demokratieerziehung sollte unbedingt schon im Kita-Alter beginnen und Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität erlebbar vermitteln. Wenn schon junge Kinder die Erfahrung machen, dass Respekt für Vielfalt zu ihrem Alltag gehört – z. B. indem sie Respekt für ihre Familienform erfahren – und dass sie ihren Alltag durch altersangemessene Beteiligung selbst mitgestalten können, dann ist für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft von morgen sehr viel gewonnen.

 

Sie bieten regelmäßig Fortbildungen zum Thema geschlechtliche Vielfalt an. Welche Vorbehalte oder Ängste haben Fachkräfte bei dem Thema und wie lassen sich diese abbauen?

Zunächst: Wir stoßen mit unseren Fortbildungen und Bildungsmaterialien überwiegend auf sehr großes Interesse der Fachkräfte, die in der Regel in ihrer Ausbildung sehr wenig über das Thema Geschlechtervielfalt erfahren haben und sich deshalb grundlegende Informationen und praxisorientierte Handlungsempfehlungen wünschen. Das eigene Wissen, das sich meist aus den Medien speist, erleben die Fachkräfte eher als lückenhaft und unzureichend. Bei der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten von Geschlechtervielfalt kommen viele Kolleg*innen ins Nachdenken und nutzen gerne die Gelegenheit, verinnerlichten Vorurteilen oder unbewussten Geschlechterstereotypen genauer nachzuspüren.

Eine regelmäßig geäußerte Befürchtung ist, dass Eltern das Thema Geschlechtervielfalt ablehnen und die Fachkräfte in Erklärungsnöte bringen könnten. Hier helfen Sachinformationen und Argumentationsstrategien, wie wir sie in den Fortbildungen gemeinsam erarbeiten.

 

Welche Kompetenzen brauchen frühpädagogische Fachkräfte für einen sensiblen Umgang mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt?

Wenn Fachkräfte zu dieser Thematik sensibilisiert sind und spezifisches Wissen erworben haben, können sie dies in ihre allgemeinen professionellen Kompetenzen integrieren. Dann geht es etwa darum, Geschlechtervielfalt sichtbar zu machen, indem die Fachkräfte Informationen altersangemessen vermitteln, eine inklusive Sprache verwenden und pädagogische Materialien bewusst auswählen, einsetzen und kommentieren. Geschlechterthemen zeigen sich in allen frühpädagogischen Bereichen, denn Kinder nehmen sehr viele vergeschlechtlichte Botschaften aus ihrer Umwelt auf, andererseits gehen sie auch mit kindlicher Unbefangenheit und Kreativität mit ihnen um. In Rollenspielen bspw. werden Geschlechterstereotype gleichzeitig reproduziert und gebrochen. Darauf können Fachkräfte im pädagogischen Kontakt und in der Beobachtung und Dokumentation eingehen. Weitere wichtige Kompetenzen sind, geschlechtliche Selbstdefinitionen von Kindern zu respektieren, ihnen Selbsterprobungen zu ermöglichen und bei geschlechterbezogenen Diskriminierungen einzuschreiten. Sehr hilfreich ist die Kompetenz, die eigene Position und pädagogische Haltung – gerade auch bezüglich biografischer Erfahrungen – bewusst zu reflektieren und neue Verhaltensweisen einzuüben.

 

Seit dem 01.01.2019 kann bei uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen im Geburtenregister die dritte Geschlechtsoption „divers“ eingetragen werden. Welche Auswirkungen wird diese Änderung auf die Kindertagesbetreuung haben?

In ihrer aktuellen Kampagne weisen die Vereinten Nationen darauf hin, dass bis zu 1,7 Prozent aller Menschen mit mehrdeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren werden – etwa so viele wie die zwei Prozent rothaarigen Kinder in unserem Land. Lange war Intergeschlechtlichkeit ein Tabuthema, erst in diesem Jahrzehnt wurde dieses Tabu langsam gebrochen, seit dem Gutachten des Deutschen Ethikrates von 2011 wird auch öffentlich über und vor allem mit intergeschlechtlichen Menschen gesprochen. Dabei geht es weniger um medizinische als vielmehr um menschenrechtliche, soziale und auch pädagogische Fragen.

Die rechtliche Anerkennung der biologischen Tatsache, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, wird sich auch auf administrative Verfahren auswirken: zweigeschlechtlich geführte Statistiken etwa können nicht dem Anspruch gerecht werden, die Gesamtbevölkerung abzubilden. Viel wichtiger für die Kindertagesbetreuung sind aber die sozialen und pädagogischen Fragen: Wie lässt sich die Kita so inklusiv weiterentwickeln, dass Geschlechtervielfalt einen angemessenen Raum erhält und auch intergeschlechtliche Kinder und ihre Eltern sich wertgeschätzt fühlen? Dazu machen sich nach der Veränderung des Personenstandsgesetzes immer mehr Einrichtungen und Träger Gedanken.

 

Die Handreichung „Murat spielt Prinzessin, …“, die Sie maßgeblich mitentwickelt haben, beleuchtet sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik. Die Publikation wurde Ziel einer medialen und politischen Diffamierungskampagne, war aber innerhalb kürzester Zeit vergriffen. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch zwischen einem hohen Informationsbedarf bei Fachkräften und einer ablehnenden Haltung in Teilen der Bevölkerung gegenüber diesen Themen?

Die Vorsitzende des Landeselternausschusses Kindertagesstätten Berlin, Katrin Molkentin, brachte in ihrer Stellungnahme auf den Punkt, was wir auch von vielen Fachkräften gehört haben: „Eine solche Broschüre war längst überfällig.“ Die zahlreichen Bestellungen und der wiederholt erforderliche Nachdruck machen deutlich, wie groß der Bedarf in den Einrichtungen ist. Nicht nur einzelne Kita-Fachkräfte, auch Verbände und große Kita-Träger, sowie Ausbildungsstätten für Erzieher*innen zeigen sehr großes Interesse an der Handreichung, die für eigene Fortbildungs- und auch für Ausbildungszwecke angefragt wird. Wie groß die Ablehnung in der Bevölkerung insgesamt tatsächlich ist, können wir gar nicht einschätzen. Die 40.000 Menschen, die die Online-Petition “Kein Vielfalts-Sex in KiTas: Indoktrinierende Broschüre sofort zurückziehen!“ unterzeichneten, haben den Wahrheitsgehalt der im Netz verbreiteten Diffamierungen und Falschaussagen vermutlich nie selbst überprüft. Rechtspopulistische Gruppen haben teilweise erfolgreich Ängste vor sogenannter „Frühsexualisierung“ instrumentalisiert. Wer die Handreichung selbst liest, merkt sehr schnell, dass die Vorwürfe aus der Luft gegriffen sind und mit den geschilderten Erfahrungen aus der Kita-Praxis nichts zu tun haben. Dementsprechend fielen auch sämtliche Stellungnahmen aus der Fachwelt der Kindertagesbetreuung und der Pädagogik positiv aus. Auch die Anträge von CDU, AfD und FDP im Abgeordnetenhaus von Berlin, die Verteilung und Nutzung der Broschüre zu stoppen, wurden von der Regierungskoalition im Parlament zurückgewiesen. Am 02.11.2018 wurde die Handreichung schließlich vom Bündnis gegen Homophobie – einem Zusammenschluss von 120 Berliner Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen – mit dem Respektpreis 2018 ausgezeichnet.

 

Seit Anfang 2019 gibt es im Land Berlin die Fachstelle Queere Bildung. Sie ist Anlaufstelle für die Umsetzung und Qualitätssicherung der Bildungsarbeit im Bereich LGBTTIQ. Welche Signalwirkung kann eine solche Fachstelle für die Relevanz der Themen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt im Elementarbereich (auch außerhalb Berlins) entwickeln?

Das Land Berlin hat sich schon 2009 mit einem Parlamentsbeschluss verpflichtet, die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt umfassend zu fördern, und dabei bewusst einen Schwerpunkt im Bildungsbereich gesetzt: Nicht nur in Schulen und Schulbehörden, sondern auch in den Strukturen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – einschließlich der frühen Bildung – werden Schlüsselpersonen und Fachkräfte geschult und zahlreiche pädagogische Materialien entwickelt. In der Kindertagesbetreuung zeigte sich ein sehr großes Interesse an unserem Ansatz, Geschlechtervielfalt nicht im Rahmen von Sexualpädagogik, sondern von Vielfaltspädagogik, Demokratiebildung und Inklusion zu vermitteln. Das Beispiel dieser Pionierarbeit im Kita-Bereich hat inzwischen auch andernorts Schule gemacht. Mit der Weiterentwicklung unserer Bildungsinitiative zur Fachstelle Queere Bildung zeigt das Land Berlin seine Entschlossenheit, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt auch künftig als wichtige Themen im Kontext von Antidiskriminierung und Inklusion zu verankern. Bereits der Landesaktionsplan von 2009 entfaltete Signalwirkung: fast alle Bundesländer folgten dem Berliner Beispiel und verabschiedeten eigene Aktionspläne. Trotz der generellen Zuständigkeit der Länder sollte auch ein künftiger Bundesaktionsplan auf den Bildungsbereich eingehen, denn in Bildungsprozessen – insbesondere in der frühen Bildung – werden die entscheidenden Weichen für das gesellschaftliche Zusammenleben gestellt. Die Fachstelle wird mit ihrem Bereich Beratung und Service qualitative Weiterentwicklungen zur Öffnung für Geschlechtervielfalt und Familienvielfalt in allen Bildungsbereichen gerne weiter unterstützen.

 

Herzlichen Dank für das informative Gespräch!

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