Warum Demokratie nicht ohne Diversität(sbewusstsein) zu denken ist

– und was das mit der Kindertagesbetreuung zu tun hat

„Und als nächstes kommt Vielfalt!“, stöhnt eine Teilnehmende einer Fachveranstaltung, bei der es um Partizipation in Kitas geht, gequält auf. So verständlich dieser Ausruf in Anbetracht der ständig steigenden Anforderungen an die Kindertagesbetreuung – bei weitgehend gleichbleibenden (also schwierigen) Rahmenbedingungen – ist, so nachdenklich macht er doch auch. Muss, wer über Partizipation und Demokratiebildung spricht, nicht immer auch über den Umgang mit Unterschieden und Vielfalt nachdenken? Sind beide Aspekte – Demokratie und Diversität – nicht untrennbar verbunden, weil die Geschichte unserer Demokratie auch immer die Geschichte unseres Umgangs mit Unterschiedlichkeit ist? Und vor allem: Ist die Vielfalt nicht schon längst in den Kitas und Tagespflegestellen angekommen? Letzteres zeigen sowohl wissenschaftliche Studien als auch die Nachfragen und Diskussionen auf ebenjener Veranstaltung: Dort wollen Fachkräfte wissen, welche Erkenntnisse es zu Intersexualität bei jungen Kindern gibt und wo sie sich zu diesem Thema schlau machen können; Kita-Leiterinnen tauschen sich darüber aus, wie sie es auch von Armut betroffenen Kindern ermöglichen können, an der geplanten Kita-Fahrt teilzunehmen; Erzieherinnen und Erzieher diskutieren über alltagsintegrierte Sprachförderung, heterogene Teams und die Zusammenarbeit mit Eltern über Sprachbarrieren hinweg.

Vielfalt ist also schon da. Und mit ihr auch der Anspruch und die Verpflichtung, diese Unterschiedlichkeit zu respektieren und allen Kindern – unabhängig von ihrer Herkunft, Sprache, Religion oder anderen Differenzkategorien – gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation zu ermöglichen. Denn dies ist das große, das paradoxe Versprechen demokratisch und rechtsstaatlich verfasster Gesellschaften: die Anerkennung für die Heterogenität von Menschen und Lebensformen bei gleichzeitiger Gewährleistung von Chancengleichheit für alle.

Und natürlich gilt dieses Versprechen nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder. Mit der UN-Kinderrechtskonvention, die seit 2010 ohne Vorbehalte in Deutschland gilt, wurde es deutlich ausbuchstabiert: Kinder haben neben Schutz- und Förderrechten auch Beteiligungsrechte, d.h. sie haben das Recht, sich in allen sie berührenden Angelegenheiten frei zu äußern; ihre Meinung ist entsprechend ihres Alters und Entwicklungsstandes zu berücksichtigen (Art. 12). Dieses Recht steht – wie auch alle anderen Kinderrechte – jedem Kind ohne jede Diskriminierung aufgrund der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, einer (zugeschriebenen) Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds zu (Art. 2, Diskriminierungsverbot). Partizipation und Inklusion (in einem weiten Verständnis) sind also zwei Seiten derselben Medaille – das eine ist nicht ohne das andere zu denken.

Soweit der hehre Anspruch. Doch die gesellschaftliche Realität ist vielerorts eine andere. Da werden Teil-sein, Teil-haben und Teil-nehmen den als „anders“ Etikettierten noch immer vorenthalten. Das zeigt sich beispielsweise in der starken Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland oder in der anhaltend hohen Kinderarmutsquote. Auch die Kindertagesbetreuung ist – den nicht unerheblichen Anstrengungen von Fachpraxis und Fachpolitik zum Trotz – nicht frei von diesen Ungerechtigkeiten. Und das ist verhängnisvoll. Denn Kitas und Tagespflegestellen sind als erste Bildungsinstitutionen außerhalb der Familie die Orte, an denen Kinder das erste Mal mit gesellschaftlichen Regeln und Machtverhältnissen in Berührung kommen. Kindertagesbetreuung spiegelt die Gesellschaft im Kleinen wider; sie ist eine „embryonic society“, wie John Dewey es nennt. Wenn Kinder hier lernen, dass ihre Stimme nicht zählt, weil die Erwachsenen ohnehin immer „die Bestimmer“ sind, wenn sie sich in ihrer Identität nicht in den in der Kita angebotenen Materialien wiederfinden, wenn Kinder erleben, dass es in Ordnung ist, wenn Ben nicht mit Ahmad spielen will, weil der nicht hier geboren ist, wenn sie mitbekommen, dass Mädchen nicht mit an die Hobelbank dürfen, weil sie dafür „zu schwach“ sind, wenn sie erfahren, dass man Bruno vieles nicht zutraut, weil er einen Herzfehler hat, dann eignen sie sich nicht nur gesellschaftliches Wissen an, sondern lernen auch, dass Ausgrenzung, Diskriminierung und ungleiche Teilhabechancen „normal“ sind. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen werden sie ihr eigenes Selbst verstehen und entwickeln und ihren Platz in gesellschaftlichen Hierarchien verorten. Damit werden gesellschaftliche Ausschlussprozesse letztlich perpetuiert.

Die gute Nachricht? Frühpädagogische Fachkräfte und Einrichtungen haben eine große gesellschaftliche Gestaltungskraft und die Möglichkeit, zum Abbau von Barrieren und Ungleichheit beizutragen. Wie? Durch eine pädagogische Praxis, die zugleich partizipativ und inklusiv ist. Der erste Schritt dorthin: kritische Selbstreflexion – am besten im Team. Die Themen, die hierbei angesprochen werden sollten, gehen ans Eingemachte: Sie betreffen den eigenen Umgang mit Macht, persönliche Werte und Haltungen, biografische Erfahrungen, den eigenen Sprachgebrauch, die eigene Komplizenschaft mit exkludierenden Strukturen. Und natürlich braucht es auch einen organisationalen Lernprozess, der die Einrichtung darauf untersucht, inwiefern sie Partizipation und Inklusion durch die Gestaltung der Räumlichkeiten, die Ausstattung mit Materialien, durch ihr Leitbild, durch Aushänge, durch festgelegte Abläufe, aber auch ungeschriebene Gesetze ermöglicht oder behindert. Klingt anstrengend und langwierig? Ist es auch! Aber einerseits geben Konzepte wie die Kinderstube der Demokratie, die Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung oder der Index für Inklusion – in verschiedener Ausformung und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – Teams wichtige Prüffragen und Hilfestellungen für diese Reflexions- und Lernprozesse an die Hand. Und andererseits tragen diese Anstrengungen das Versprechen in sich, dass alle Kinder zu ihrem Recht auf Entfaltung, auf Teilhabe, auf Beteiligung kommen – wohl der Grund, warum sich viele Fachkräfte (trotz der schwierigen Rahmenbedingungen) für die Arbeit mit Kindern entschieden haben.